die wahrheit: Es wird Zeit, Wilfried

Begegnungen mit Gott. Heute: der zögerliche Lebensmüde im Wirtshaus an der Ecke.

Es war einmal ein Mann, der hatte beschlossen, seinem Leben am nächsten Tag ein Ende zu setzen. Die Gründe können wir vernachlässigen. Es gab wahrlich genug. Da die Sache nun einmal abgemacht war, grübelte der Lebensmüde, auf welche Art und Weise die Entleibung vonstatten gehen könnte. Ertränken kam nicht in Frage. Eine Wasserleiche ist schließlich ein unappetitlicher Anblick, und unser Mann, der von Haus aus ein sensibler und rücksichtsvoller Zeitgenosse war, mochte niemanden mit dem porösen, aufgequollenen Fleischklumpen, in den sich sein Körper unweigerlich verwandeln würde, belästigen. Schon gar nicht wildfremde Menschen, die sich auch zu dieser unwirtlichen Jahreszeit gern an den städtischen Gewässern die Beine vertraten.

Aus ähnlich gelagerten Erwägungen verwarf er das Erhängen, das Öffnen der Pulsadern und einen Schuss in die Mundhöhle. Der sei zwar schmerzfrei und höchst effizient, wie er einem pathologischen Standardwerk entnommen hatte, machte aber eben auch eine Menge Dreck, weil dabei der Schädel quasi explodierte und das Hirn dann - nein, unser Mann wollte sich das lieber gar nicht erst ausmalen.

Blieb also nur noch ein Toxikum. Kein Blut, kein verschmutzter oder verrutschter Anzug, die Züge wirken entspannt, ja, der ganzen mausetoten Erscheinung würde etwas Friedvolles, irgendwie Tröstliches anhaften, hatte er jedenfalls von einer Stieftante väterlicherseits gehört, die es nach dem Krieg in Offenbach als Gattenmörderin in drei Fällen zu lokaler Berühmtheit gebracht hatte.

Doch welche Substanz sollte er benutzen? Er war kein Fachmann, sondern einfacher Lohnbuchhalter, und entsprechend ratlos. Arsen, Strychnin, Curare? Ein Gift, das sich auf die Lungen legt, oder doch lieber einen schnell wirkenden Extrakt, welcher krampfartig die Darmflora verwüstet? Mal neigte er zur chemischen Keule, mal zu homöopathischen Produkten. Wobei er sich allmählich ein bisschen lächerlich vorkam, schließlich lief alles auf dasselbe hinaus.

Kurz vor elf beschloss er die Frage bei einer späten Brotzeit im Wirtshaus an der Ecke zu bedenken, zumal, und bei diesem Gedanken umspielte ein melancholisches Lächeln seine blassen Lippen, jedem zum Tode Verurteilten eine Henkersmahlzeit zustand. Er fand auch gleich einen freien Tisch im hinteren Bereich des Lokals, bestellte Hirschrahmbraten mit Apfelkompott und ließ sich eine Flasche Burger kommen.

Während unser Mann den Braten ohne großen Hunger in kleinen Brocken herunterwürgte, wog er fieberhaft die methodische Seite des Suizids: "Unkraut-Ex, das würde meinem verpfuschten Leben die Krone aufsetzen", brummte er halblaut. "Das würde dir die Gedärme auf recht langwierige und unerfreuliche Art zerreißen", hörte er plötzlich eine Stimme sagen. Er blickte sich erschrocken um. Hinter ihm saß ein rotnasiger Alter, der lustig mit den Augen zwinkerte, sein Glas ergriff und sich an den Tisch des Lebensmüden bewegte. "Ich darf doch?", fragte der Alte, und ehe unser Mann antworten konnte, zwängte sich die voluminöse Gestalt in die Eichenbank. Der Alte lächelte, sagte aber nichts. Der Lebensmüde mümmelte verlegen an seinem Apfelkompott und rief schließlich nach der Rechnung.

"O nein!", sprach der Fremde, "erst nehmen wir noch eine Flasche Roten auf meine Rechnung." Der Lebensmüde wollte protestieren, da fiel ihm ein, dass es auf einen Schluck mehr oder weniger jetzt auch nicht mehr ankam. Resigniert ließ er sich in den Sitz zurückfallen. "Ich bin der Gott, der Herr, und weiß alles", fuhr der Alte begütigend fort und füllte die Gläser. "Na, dann prost!", sagte der Lebensmüde und fragte sich, ob dieser Irre ein echtes Gefahrenpotenzial darstellte. Kann mir eigentlich Wurscht sein, dachte er und kippte den Schoppen weg.

Als die Flasche leer war, bestellte der Alte eine neue. Dann noch eine, dann zwei Wodka und wieder Rotwein. Dem Lebensmüden wurde der Mann, der sich Gott nannte, immer sympathischer. "Sach mal, verträgt dein Sohn auch son Stiefel wie du?", insistierte er und stocherte mit dem linken Zeigefinger in die Richtung, wo er den Herrn Gott vermutete. Doch da saßen jetzt drei. "Locker", antwortete der in der Mitte. "Alle Achtung", entfuhr es dem Lebensmüden.

Der Mann, der sich Gott nannte, orderte eine weitere Flasche Roten und zwei Doppelkorn. All das wurde schweigend verklappt. Viel zu sagen hatten sich die beiden nicht mehr, der Mann, der sich Gott nannte, wusste ja schon alles.

Weit nach Mitternacht sprach er plötzlich: "Komm, Wilfried, es wird Zeit zu gehen." Der Lebensmüde dachte noch, woher kennt der meinen Namen, machte sich darüber aber keinen Kopf, denn der war, weiß Gott, und hier musste er zum ersten Mal seit Wochen herzlich lachen, schwer genug. Der Alte lachte mit, lud sich Wilfried auf die breite Schulter und die beiden verschwanden in der Nacht.

Der Wirt indes erschrak mächtig, als er beim Abkassieren Wilfrieds Arm berührte und der Gast leblos zu Boden plumpste. "Alkoholvergiftung", stellte der Notarzt fest, "gemerkt hat er nix." MICHAEL QUASTHOFF

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kari

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