die wahrheit: Das Hannöversche Hohnsingen

Tage des geheimnisvollen Brauchtums: Blind Lemon Sägebrecht sings the Blues.

Schopenhauersche Illusionslosigkeit: der alte Mann in Concert. Bild: reuters

Die Suche nach dem größten hannöverschen Hohnsänger aller Zeiten verschlug mich in ein schäbiges Seniorenheim am Güterbahnhof. Der hagere Greis in Zimmer 73 saß in einem Schaukelstuhl und schlug gedankenverloren ein paar Akkorde auf der Gitarre an. Seine weißen toten Augen starrten aus dem Fenster. Es war ein trüber Wintertag. Draußen trieb der Wind den Dreck über die Bahngleise, wo sich ein paar Streikposten der GdL die Beine vertraten.

"Ich muss gerade an ein Lied denken, dass mein Vetter gelernt hat, als er auf den Spargelfeldern war." Sprach der Alte mit mir oder meinte er den anderen sklerotischen Zausel, der hinter ihm saß und höhnisch grinsend an einer Schnabeltasse nuckelte? Ich war nicht sicher, warf aber auf alle Fälle mein Bandgerät an - gerade noch rechtzeitig. "Blind Lemon Sägebrecht hatte eine dunkle Ahnung davon", nuschelte der Greis, "aber keiner hat es richtig gebracht."

Und schon sang er mit schütterem Bass: "Schwarz wie der Arsch der Milchkuh / ist die Seele vom Spargelbauer / Schwarz wie der Arsch der Milchkuh / ist die Seele vom Spargelbauer "

So beginnt bekanntermaßen einer der berühmtesten Hohngesänge aus dem hannöverschen Konservendorado. Der Rest der Welt kennt den Song unter Titeln wie "Aint No More Money On This Asparagus Field" oder "I Can Get No Satisfaction". Der Greis schloss die blinden Augen und sang weiter. "Fahr zur Hölle, altes Aas, / wo Düwel dir sein Märschlein blas " Er schwieg einen Moment. Dachte er an die heißen trocken Sommer auf den endlosen Spargel- und Rübenäckern? An die elektronischen Ketten an seinen Fußgelenken, während die Hartz-IV-Aufseher unterm Sonnenschirmen saßen, die Flinte quer über den Knien? Oder schwurbelte ihm die Abendvesper durchs Hirn?

Bild: tom

"Uuuhh, big asparagus fields, here I come. / Uuuh, big asparagus fields, here I come."

Murrend schüttelte der Alte den Kopf. Dann sang er das Lied noch mal und drosch dabei immer wilder auf die Gitarre ein. Er hielt nur einmal kurz inne, um eine Flasche Schinkenhäger hervorzuziehen. Er setzte sie an den Mund und schluckte mindestens einen Viertelliter. Sein Kumpel lächelte mir zu: "Jetzt hat ers gleich." Und tatsächlich legte der Alte wieder los.

"Meine Mutter rief mich, ich antwortete: Ja, Mama? / Sie sagte: Haste die Schnauze voll von der Arbeit? / Ich sagte: Ja, Mama! / Mein Vater rief mich. Ich sagte: Ja, Sir? / Er sagte: Wenn du die Schnauze voll hast von der Arbeit, was machst du dann noch hier? / Ich kann nichts dafür. Die Zeiten haben sich geändert. / Schwarz wie der Arsch der Milchkuh ist die Seele vom Spargelbauern / und der Düwel hol Hartz IV."

Drei Monate später war der alte Mann tot - erfroren, weil das Seniorenheim die letzte Eon-Rechnung nicht mehr zahlen konnte. Er hat darüber noch einen höhnischen Song gemacht. Electric Ladyland: "Das Land ist kalt wie Tiefkühlkost, / im Herz der Merkel klirrt der Frost, / durchs Kleinhirn fegt ein eisger Wind, / obwohl wir nicht am Nordpol sind." Der Name des großen Hohnsängers war Lightnin Haverkamp, und er hat das urhannoversche Brauchtum quasi erfunden - gemäß seinem Lebensmotto, auf dass der früh mit Blindheit, Aussatz und Intelligenz geschlagene Konfirmand in Psalm 76, 12 gestoßen war. "Und gib unseren Nachbarn ihren Hohn, womit sie dich, Herr, gehöhnt haben, siebenfach in ihren Busen zurück!" Dass ihm Howlin Schmidt, Lukas Liedbeller und Blind Boy Kowalski, drei Countertenöre aus Vechta-Süd, den Ruhm ein Leben lang streitig machten und ihn das mafiöse angloamerikanische Musikbusiness um Millionen-Dollar-Tantiemen betrogen hat, konnte ihn in seiner soliden Grundverbitterung nur bestärken.

Als man Lightnin Haverkamp zu Grabe trug, folgten hunderttausend Hannoveraner seinem Sarg. Sie sangen sein letztes Lied, das bei aller schopenhauerschen Illusionslosigkeit doch ein paar versöhnliche Töne anschlägt: "Wir alle brauchen doch ein bisschen Wärme, / möchten sie mein Ofen oder meine Therme / sein für diese Nacht, für einen Woche, für nen Monat, für ein Jahr, / ach, das wäre doch wunderbar / wir alle brauchen doch ein bisschen Wärme, / ich für meinen Teil gebe sie gerne, / denn der Mensch ist mehr als Geizhals, mehr als Schinder, Aktionär, / er ist ein kleiner süßer Kuschelbär."

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kari

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