Straßenkind "Jerome" vom Alexanderplatz: "Zwischen Gosse und Nobelpreis"

Abhauen, Drogen, Strich: Jerome ist ein Berliner Straßenkind. Tags hängt er am Alex ab, nachts beim Freier. Es gibt tausende Jugendliche wie ihn, aber nur wenig Hilfe.

Sehnsuchts- und Zufluchtsort Alexanderplatz. Bild: dpa

BERLIN taz

9.000 Kinder und Jugendliche leben in Deutschland auf der Straße. Viele von ihnen sind krank, sie leiden unter Infektionskrankheiten wie Hepatitis oder Aids, nehmen Drogen und sind schlecht ernährt. Offroad Kids kümmert sich um Straßenkinder. Seit 15 Jahren existiert der Verein, sein Ziel ist es, aus Ausreißern nicht erst Straßenkinder werden zu lassen. Kommt es dennoch so weit, vermittelt Offroad Kids zwischen Eltern und ihren Kindern, bietet Beratung an oder hilft bei der Suche nach Wohnraum. Die Kinderhilfsorganisation terre des hommes will nun ein bundesweites Netzwerk für Straßenkinder gründen, um die Aktivitäten zu bündeln und Straßenkindern Hilfe aus einer Hand anbieten zu können. Heute treffen sich zu diesem Zweck in Frankfurt 25 lokale Initiativen aus ganz Deutschland.

Der Alex fröstelt. Unter blassblau klarem Himmel lässt die Sonne Glassplitter auf dem Boden blinken wie Edelsteine. Sie kommen von den Flaschen, die die Jugendlichen vor dem Schnellrestaurant geleert haben. Ab und zu schnorren sie Passanten an: "Können Sie mir vielleicht etwas Kleingeld …, damit ich mir was zu essen und trinken …" Ein alter Mann geht vorüber, auf seinem Gesicht spiegeln sich Ekel und Mitleid. Einer der Jungen, Pickel, Zähne in der Farbe von Erdnüssen, beginnt zu erzählen.

Ich möchte, dass du mich Jerome nennst, wenn du das später aufschreibst. Den Namen hätte ich mir selbst gegeben. Aber meine Eltern wollten einen anderen. Außerdem will ich, dass du mir gut zuhörst und nicht dauernd dazwischenfragst. Ihr Journalisten macht das nämlich gerne. Und wie du sicher weißt, nehmen viele Straßenkinder Geld von euch für ihre Geschichten. Ich will kein Geld. Aber hör mir richtig zu.

Ja, ich bin ein Berliner Straßenkind. Das heißt nicht, dass ich auf der Straße wohne. Ich wohne bei Hans. Aber ich bin fast immer auf der Straße. Nur nicht zum Schlafen. Hier fühle ich mich wohl, hier sind meine Freunde. Der Bahnhof Zoo? Das war mal. Heute ist der Treffpunkt der Kids am Alex. Man kann gut rumhängen, ist ja ein öffentlicher Platz. Und schön zentral.

Die meisten Leute meinen, Straßenkinder kommen aus kaputten Familien. In meiner Familie war alles okay. Vielleicht sogar zu okay. Ich wurde nie geschlagen oder missbraucht wie andere. Mich hat eher genervt, dass meine Mutter nie nein gesagt hat.

Ich komme aus einem kleinen Ort in Westfalen. Name spielt keine Rolle, man weiß ja nie, wer das liest. Über meine Kindheit kann ich nichts Schlechtes sagen, auch wenn du noch so oft fragst. Vater Elektrikermeister, Mutter Hausfrau, ein älterer Bruder. Weihnachten gabs Geschenke und Essen satt. Auch in Urlaub sind wir gefahren. Türkei, Spanien und so. Mein Vater hat viel gearbeitet. Meine Mutter fuhr so den "Wir sind immer für dich da"-Film.

Schule war auch in Ordnung. In der Grundschule gehörte ich zu den Stärkeren, auf der Realschule wars dann nicht mehr so. Da gab es welche, die mich versucht haben zu hänseln wegen meines Aussehens. Ich habe ordentlich dagegengeschossen. Mir kann keiner was. Meine Noten waren so im Dreierbereich, die Lehrer waren Vollidioten. Ich war in ein Mädchen verschossen, eine Klasse unter mir. Mir gefielen ihre blonden Locken und dass sie sich nicht so in den Vordergrund gespielt und rausgeputzt hat wie andere. Aber sie wollte nichts von mir.

Damit hat alles angefangen. Damit und dass meine Eltern mir einfach auf den Sack gingen. Vor allem meine Mutter mit ihrem Gehätschel. Brauchst du dies, brauchst du das, willst du drüber reden? Ich wollte meine Freiheit. Da bin ich abgehauen. Das ist jetzt anderthalb Jahre her.

Ines Fornaçon ist klein. Die Pädagogin mit den kurzen roten Haaren ist Streetworkerin bei Off Road Kids, einem Sozialprojekt, das sich in Deutschland städteübergreifend um Straßenkinder kümmert. Sie sagt, sie sei selbst ein "Kind des Alex", sie ist hier ganz in der Nähe aufgewachsen. "Wir sprechen die Kids an, wenn sie hier eintreffen, und versuchen, einen Kontakt aufzubauen", sagt sie, "manche haben schlimme Schicksale im Gepäck." Wenn möglich, redet der Verein mit der Familie und dem Jugendamt am Heimatort, er berät, hilft bei der Suche nach einem betreuten Wohnplatz oder, je nach Alter, nach einer eigenen Wohnung. "Aber die Jugendlichen sollten das auch wollen", sagt Fornaçon. Als letzter Notanker bleiben manchmal nur die beiden Kinderheime des Vereins im Schwarzwald.

Der Job ist hart. Ines Fornaçon sagt, sie könne nur mit wenigen Menschen darüber reden, was sie täglich erlebt, den meisten ginge das Ganze zu nah. "Ich habe aber gelernt, nach Feierabend abzuschalten. Nur wenn eines der Kids stirbt, dann hauts mich immer noch um." Bis zum Alter von 18 Jahren sind es überwiegend Mädchen, die von zu Hause ausreißen. Über 18 dann mehr Jungs. "Mädchen reifen eben schneller", sagt Fornaçon. Wenn die Kids auf der Straße angekommen sind, ist die romantische Vorstellung von Freiheit schnell dahin. Dann nimmt ihr neues Leben sie fest in den Griff.

Ich bin natürlich gleich nach Berlin gefahren. Berlin - da wollen alle hin. Das Geld dafür hab ich meiner Mutter geklaut. Am Alex kommen ständig neue Leute an, die abgehauen sind. Da wird immer gefeiert. Manchmal fragen wir die Streetworker, ob sie nicht einen mitsaufen wollen. Aber die sagen dann immer: "Nein, das geht nicht." Die kümmern sich wenigstens um uns. Richtige Freunde lernt man auf der Straße nicht kennen, das weiß ich heute. Jeder beklaut und übervorteilt dich, wenn er irgend kann. Das ist schon so eine Möchtegern-Gemeinschaft hier.

Der beste Freund von den meisten ist der Alkohol. Wir trinken Sangria, billigen Wein, Schnaps, natürlich Bier. Es gibt Flaschenbier für ein paar Cent, das kaufen wir immer palettenweise. Klar, dass auch Drogen eine Rolle spielen. Kiffen ist Alltag. Ziemlich bald hab ich angefangen, mir Speed in die Nase zu ziehen. Das ist billig, du bleibst ewig wach und bist gut drauf. Ist ja nicht so, dass sonst im Leben alles toll wäre. Heroin zu rauchen hab ich vor einem Jahr angefangen. Das ist noch mal ein ganz anderer Kick. Aber teuer.

"Viele Straßenkinder nehmen früher oder später Drogen", sagt Ines Fornaçon. Der Weg aus der Sucht ist schwierig, der Verein versucht, neue Ausreißer möglichst in der ersten Woche wieder von der Straße zu kriegen. Bei manchen Jugendlichen sind auch die Sozialarbeiter machtlos. "Ich habe ein volljähriges Mädchen, da müssen wir gerade zuschauen, wie sie sich langsam umbringt", sagt Fornaçon. Um das Geld für die Drogen aufzutreiben, gehen die Kids betteln, klauen oder auf den Strich. Es gibt Treffpunkte für Freier und Straßenkids. In einer bekannten Bar hat Jerome vor einem halben Jahr Hans kennengelernt, bei dem er inzwischen wohnt.

Also der Hans ist in Ordnung. Ist schon was älter, aber cool, hat nen festen Job. Ich sehe ihn gar nicht mehr als Freier, eher als Freund. Der hat mir schon bei vielem geholfen. Nicht nur, dass ich bei ihm wohnen kann, er gibt mir auch noch Taschengeld. Ob ich mit ihm schlafe? Ja, aber das ist was anderes. Schwul bin ich definitiv nicht. Aber für den Stoff brauchst du eben Schotter. ne Zeit lang habe ich auch Autoradios geklaut und so. Aber das ist mir zu heiß. Gott sei Dank bin ich nie erwischt worden.

Früher hatte ich noch einen Vorsatz: Sich nie in den Arsch ficken lassen. Mittlerweile sind die Grenzen andere. Manche Freier wollen mit Urin und Kot rumspielen. Aber so was gibts nicht mit mir. Wir machen uns für die immer ziemlich zurecht. Wobei das nicht bei allen gut fürs Geschäft ist. Manche stehen nämlich total auf diesen abgefuckten Typ Straßenkind. Die finden das super, wenn einer Wunden hat oder Abszesse, die sie dann verbinden können. Da geht denen einer ab. So was ist richtig abartig. Klar sind viele Freier Schweine, und mit Minderjährigen Sex gegen Geld zu haben, ist auch verboten. Aber sollen wir sie anzeigen, wenn sie unsere einzige Einnahmequelle sind?

Markus Seidel hat Off Road Kids 1993 gegründet. Er stammt aus dem Schwarzwald und war früher Journalist. Nicht nur deshalb ist er so etwas wie der Wolfgang Clement der Straßenkinder-Sozialarbeit. So wie der frühere SPD-Wirtschaftsminister immer vom "Fördern und Fordern" sprach, hat Seidel den Grundsatz der "herzlichen Strenge". "Wenn sie zum Beispiel zu uns ins Wohnheim kommen, sind wir streng mit den Jugendlichen und stellen Regeln auf. Wenn sie sich daran halten, bekommen sie mehr Freiheiten."

Seidel redet schnell, schaut oft auf die Uhr. Er ist ein Arbeitstier. Schon mehr als tausend Straßenkinder haben er und seine Mitarbeiter wieder in ein normales Leben geführt. Staatliche Hilfe gab es dafür nicht, aber das Bundesverdienstkreuz. Seidel hat Förderer gefunden. Die Bahn spendet nicht nur Geld, sondern auch Netzkarten, mit denen die Streetworker und Jugendlichen durch Deutschland fahren, etwa zum zuständigen Jugendamt. Ein Mobilfunkunternehmen finanziert weitgehend den Betrieb der vier Streetwork-Stationen in Berlin, Hamburg, Dortmund und Köln. "Wir sind komplett auf Spenden angewiesen", sagt Seidel, "ohne sie gäbe es noch viel mehr Straßenkinder." In den Kinderheimen im Schwarzwald versucht der Verein, den Jugendlichen Perspektiven für Schule oder Beruf zu geben. Auch eine Beratungs-Hotline für Eltern von Ausreißern gibt es.

Die Streetworker reden mit mir über mein Drogenproblem. Sie machen Druck wegen der Infektionsgefahren, vor allem wegen Hepatitis C und HIV. Es kann sicher nicht ewig so weitergehen, das weiß sogar ich. Eine Therapie wäre schon eine Option. Aber es ist hart, von Heroin wegzukommen, auch wenn man nicht spritzt. Das hab ich bei vielen Freunden von der Straße gesehen. Mal sehen - vielleicht im Sommer.

Ich telefoniere mittlerweile wieder mit meinen Eltern. Das hat Ines vermittelt, ich wollte anfangs nicht. Ist aber in Ordnung, ich glaube, meine Mutter hat kapiert, dass ich nicht mehr heimkomme. Mein Leben ist jetzt ein anderes. Die Zukunft? Klar, ein Job wäre schön. Am besten ein eigenes Business, wo mich keiner rumkommandiert und ich viel Kohle mache. Wer weiß, vielleicht sogar Kinder. Jeder kann was aus seinem Leben machen. Ich glaube, bei mir ist zwischen Gosse und Nobelpreis alles drin.

Es wird dunkel am Alex, die Leuchtreklamen flimmern. Manche der Jugendlichen sind betrunken, manche bekifft. Schwermütige Langeweile liegt über der Szenerie. Die Körper von manchen sind von Krankheit zerschabt. Es scheint, als habe nur ein Zufall sie hierher geführt. Jerome geht jetzt nach Hause. Zu Hans.

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