Köhler fordert "Agenda 2020": Gegner der Gegenreform
Präsident Köhler verlangt eine "Agenda 2020", Vorgänger Herzog schimpft noch über "2010". Dabei ist jede Reformkonjunktur nach ein paar Jahren erschöpft - Widerstand zwecklos.
Ist das noch ein ernsthafter Beitrag zur Debatte, oder ist es schon politisches Kabarett? Eine "Agenda 2020" verlangt der Bundespräsident in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Super Illu. Nur so lasse sich Vollbeschäftigung erreichen, erklärte Horst Köhler dem Blatt, das nahezu ausschließlich von Ostdeutschen gelesen wird - von den Mitbürgern mithin, die Gerhard Schröders "Agenda 2010" am vehementesten ablehnten. Ähnlich wie Köhler hatte sich zuvor schon dessen Amtsvorgänger Roman Herzog geäußert. Er tat die bisherigen Reformen, für die Schröder immerhin abgewählt wurde, gar als "Kleckerkram" ab.
Nicht dass Reformen überflüssig wären. Das zeigen schon die Streitigkeiten über höhere Renten oder den Fortgang der Gesundheitsreform. Mit Kitaprogramm, Integrationsgipfel oder sechsjähriger Grundschule in Hamburg reformiert die Politik jetzt sogar jenseits des klassischen Sozialressorts ganz munter, ohne allerdings den belasteten Begriff dafür zu benutzen.
Parteipolitiker, die auf Mehrheiten angewiesen sind, werden sich für die Ratschläge der Präsidenten allerdings bedanken. Wenn schon der Begriff "Agenda 2010" geeignet war, die Wählerschaft der SPD auf die Hälfte zu reduzieren, so dürfte nach einer "Agenda 2020" von Angela Merkels CDU bestenfalls ein Viertel übrig bleiben.
Herzog immerhin zog nicht nur über die politische Klasse her, sondern auch über die Wählerschaft. "Das Volk bewegt sich nicht", so lautete seine Analyse des wirklichen Problems. Schon wahr. "Der Neuerer hat alle die zu Feinden, die sich in der alten Ordnung wohl befinden", schrieb der Florentiner Staatsmann Niccolò Machiavelli schon im 15. Jahrhundert, "und laue Verteidiger in jenen, die von der Neuerung zu gewinnen hoffen."
Gerade deshalb aber war Schröders Reformpolitik so mutig, was immer man von den Einzelheiten halten mag. Als Regierung und Parlament die Hartz-Beschlüsse fassten, war eines bereits klar: Der absehbare statistische Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf mehr als 5 Millionen würde zunächst eine Welle der Empörung über den Kanzler hereinbrechen lassen, auf die etwaigen Erfolge dagegen war erst in vielen Jahren zu hoffen. Ob Schröder den Zusammenhang nicht überblickte oder ob er sich in voller Absicht ans Kreuz nageln ließ, musste Kennern des politischen Geschäfts wie dem Aussitzpolitiker Helmut Kohl schon damals rätselhaft erscheinen.
Zu den historischen Konstanten zählt auch, dass Reformkonjunkturen selten länger als fünf Jahre andauern. Nach diesem Zeitraum war schon auf den großen kirchlichen Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts die Beschlussfreude erschöpft und auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Veränderungsbereitschaft in Preußen am Ende.
Das liegt nicht nur am Frust der Reformverlierer. Es liegt auch an dem unvermeidlichen Chaos, das solche Veränderungen in entwickelten Gesellschaften stets auslösen. Das Gerede von den "handwerklichen Fehlern" ignoriert, dass solche Friktionen angesichts der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Reformmaterien unvermeidlich sind.
Fast alle Reformen haben das Ziel, Komplexität zu reduzieren, und fast immer ist das Ergebnis, dass die Verhältnisse am Ende komplizierter sind als zuvor. Das bekannteste Beispiel für diesen Mechanismus ist die gescheiterte Kirchenreform Martin Luthers. Der Augustinermönch wollte die kirchlichen Zustände vereinfachen, heraus kamen die unendlichen Schwierigkeiten einer globalen Kirchenspaltung.
Der kurzen Reformkonjunktur folgt stets eine Phase der Ernüchterung und der Gegenreform, wie sie in Deutschland seit der Bundestagswahl 2005 eingetreten ist. Dagegen kann man zwar, wie Köhler und Herzog es derzeit tun, mit immer weitergehenden Reformwünschen anreden. Sonderlich erfolgversprechend ist das nicht. Wahrscheinlicher erscheint nach aller historischen Erfahrung, dass sich die Gegenreform ihrerseits zu einer Reformbewegung auswächst. So ging aus Luthers Reformation eine modernisierter Katholizismus hervor, der mit der mittelalterlichen Kirche so gut wie nichts mehr gemein hatte.
Bis man den Reformbegriff wieder gefahrlos benutzen darf, muss allerdings erst eine neue politische Generation heranwachsen. Das wussten schon die Zeitgenossen des österreichischen Reformkaisers Josef II. im 18. Jahrhundert: "Kurz, Kaiser Joseph hat so viele Feinde, weil er Reformator ist, weil jede Reform Missvergnügen machen muss und weil selbst ein Engel vom Himmel, wenn er als Reformator zu uns Menschen herabstiege, Feinde in Menge haben würde."
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