SDS-Kongress - 40 Jahre danach: "An der Hochschule sind wir in der Defensive"

Auf dem 68er-Kongress werden Schüler und Studenten, Politiker und Wissenschaftler die Kritik von 1968 unter heutigen Bedingungen diskutieren, sagt Jan Schalauske, Mitorganisator der dreitägigen Veranstaltung in der HU.

"Die Geister, die der Springer-Konzern gern vor 40 Jahren vertrieben hätte, sind wieder in Berlin." So kündigt Ulrich Maurer, Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestags-Linksfraktion, den heute startenden Linken-Kongress an der Humboldt-Uni an.

Ob die Studierenden wirklich für Geisterstimmung sorgen werden, bleibt abzuwarten. Klar ist: Mit dem Kongress "40 Jahre nach 1968 - Die letzte Schlacht gewinnen wir" legt der vor einem Jahr gegründete Hochschulverband Linke.SDS ein Programm vor, das selbst im Jubiläumsjahr 2008 nur wenig Konkurrenz finden dürfte: Mit 70 Veranstaltungen, dutzenden ReferentInnen und mehr als 1.000 angemeldeten TeilnehmerInnen stellt der Kongress drei Tage lang eine breite Palette linker Themen zur Diskussion.

Auf dem Programm steht einerseits die Auseinandersetzung mit 1968, andererseits die Debatte zu den Perspektiven emanzipativer Politik heute. Die Diskussionsveranstaltungen zu Themen wie Demokratie, Imperialismus, Bildung, Befreiung oder Bewegung beginnen heute um 10 Uhr und enden am Sonntagnachmittag mit einem Abschlusspodium.

Neben alten Kampfgeistern wie Hans-Christian Ströbele, Angelika Beer (Grüne) und Dieter Dehm (Die Linke) sowie vielen früheren SDS-AktivistInnen sind Organisationen wie der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), Attac und Jungpolitikerinnen wie Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel oder Katja Kipping, Parteivize der Linken, geladen.

taz: Herr Schalauske, heute beginnt an der Humboldt-Uni der 68er-Kongress unter dem Motto "Die letzte Schlacht gewinnen wir!" Von welcher Schlacht reden Sie?

Jan Schalauske: Der Titel ist eine Anspielung auf den Song von Ton Steine Scherben. Die Band lieferte sozusagen im Nachklang den Soundtrack zu 1968 - und begleitet ja auch heute noch viele Demos. Zudem erinnert die Zeile an das "letzte Gefecht" der alten Arbeiterbewegung.

Was hat das denn mit den Studierenden von heute zu tun?

Es gibt heute eher mehr als weniger soziale Kämpfe zu führen. Wie diese Kämpfe aussehen können und von wem sie gefochten werden, darüber wollen wir diskutieren.

Die Studierendenbewegung schlummert in aller Müdigkeit vor sich hin. Ist es da nicht etwas übertrieben, von der letzten Schlacht zu singen?

Es stimmt, gerade die Hochschulen sind in den letzten Jahren massiv Opfer des neoliberalen Umbaus geworden. Die Auslesemechanismen und der Anpassungsdruck an den Unis haben sich enorm verstärkt, viele Studierende haben kaum noch Zeit, für ihre Rechte zu demonstrieren. Doch gerade vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen: Welche Antworten finden wir darauf? Die mehr als 1.000 Anmeldungen für den Kongress zeigen, dass trotz aller Widrigkeiten ein großes Interesse an radikaler Gesellschaftskritik besteht.

Was kann der Kongress dazu beitragen, etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu ändern?

Es kommen etliche SchülerInnen, Azubis und Studierende aus ganz Deutschland nach Berlin. Auch aus Frankreich, Holland und der Schweiz haben sich Gäste angekündigt. Diese jungen Leute treffen auf WissenschaftlerInnen, GewerkschafterInnen und PolitikerInnen. Das ist eine gute Basis, um darüber zu diskutieren, wie der Kapitalismus heute aussieht und welche Rolle gesellschaftliche Bewegungen im Allgemeinen und Studierende, SchülerInnen und Azubis im Konkreten spielen können. Wenn man die Verhältnisse verändern will, muss man sie auch verstehen. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten.

Die meisten Programmpunkte beziehen sich auf die historische Analyse von 1968. Wird es für die Studierenden von heute nicht Zeit, den Muff der letzten 40 Jahre aus den Kleidern zu schütteln?

1968 ist auch heute noch ein identitätsstiftendes Merkmal für Linke. Wenn Forscher wie Götz Aly die 68er-Bewegung mit dem Faschismus vergleichen, wenn Daniel Cohn-Bendit und selbst die Bundeskanzlerin das Thema 1968 besetzen, dann ist es schon fast geboten, dass sich eine junge sozialistische Studierendengeneration einmischt und deutlich macht, dass viele Emanzipationsversprechen von 1968 heute nicht eingelöst sind.

Wie beschreiben Sie denn die gesellschaftspolitische Situation 2008?

Gerade im Vergleich zu 1968 gibt es ein hochinteressantes Phänomen zu entdecken: Aktuell steigt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wegen der Umverteilung von unten nach oben, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und der ungerechten Bildungs- und Sozialpolitik wieder. Das vermeintlich heile Gesellschaftsbild bekommt Risse. Doch während vor 40 Jahren in der Bundesrepublik die Studierenden revoltierten und die Gesamtbevölkerung eher skeptisch war, ist es jetzt andersherum: Die Menschen in Deutschland streiken - von den Lokführern bis zu den Postangestellten. Und an der Hochschule sind wir in der Defensive.

Was ist Ihr Rezept dagegen?

Genau darüber wollen wir auf dem Kongress diskutieren.

Haben Sie persönlich denn keine Antwort?

Nehmen wir die Unis: Wenn kritische Wissenschaft zunehmend aus der Hochschule verdrängt wird, ist es sicherlich zentral, ihr dort einen neuen Raum zu bieten. Als Studierendenverband versuchen wir an vielen Unis, selbst alternative Bildungsangebote zu organisieren. Ab Oktober wollen wir bundesweit eine flächendeckende Kapitallesebewegung organisieren, um etwa die kritische Marxlektüre in Lesekreisen wieder zu ermöglichen.

"Kapital"-Lektürekreise als kulturelle Befreiung? Wie retro ist das denn?

Marx ist erschreckend aktuell. Selbst Menschen wie Oskar Lafontaine und Heiner Geißler beziehen sich wieder auf ihn. Wenn wir dazu aufrufen, wieder Marx zu lesen, dann heißt das ja nicht, dass wir jedes Wort aus seinen dicken, blauen Bänden auswendig lernen müssen. Aber um eine grundlegende Gesellschaftskritik zu entwickeln, ist Marx nach wie vor unersetzbar - aber er verschwindet immer mehr aus den Universitäten.

Etwas jünger als Marx, aber noch immer rekordverdächtig etabliert sind viele Redner auf dem Kongress. Warum haben Sie nicht den Mut, junge Leute in die erste Reihe zu stellen?

An den Debatten sind viele junge AktivistInnen aus unserem Verband und anderen Zusammenhängen beteiligt. Zudem reden junge Leute wie die bildungspolitische Sprecherin der Linken, Nele Hirsch, die Parteivize Katja Kipping und die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel aus der SPD. Aber wenn man heute als sozialistischer Verband versucht, seine Geschichte und die gegenwärtigen politischen Herausforderungen zu verstehen, dann bleibt 1968 einfach ein zentraler Anknüpfungspunkt. Wieso sollten wir also nicht mit Veteranen der Zeit reden?

Vielleicht, weil eine neue Bewegung nicht allein durch Vergangenheitsbewältigung entsteht.

Aber auch nicht durch Ignoranz. Wichtig für uns ist, die Kritik von 1968 unter heutigen Bedingungen zu diskutieren. Wie sieht der heutige Kapitalismus aus? Welche Rolle spielen die Marginalisierten, welche das so genannte Prekariat? Wenn wir das auf dem aktuellen Stand diskutieren, ist das alles andere als retrovertiert.

Reicht Ihrem sozialistischen Hochschulverband denn das "drüber reden", damit Ihr Kongress ein Erfolg wird?

Wenn die TeilnehmerInnen inhaltlich etwas davon mitnehmen, was das Jahr 1968 mit den heutigen Verhältnissen zu tun hat, wenn wir Anregungen finden, wie wir uns gegen die herrschenden Zustände organisieren können, dann war er ein Erfolg.

Wollen Sie denn gar nicht "mobilisieren"?

Leute zu motivieren, die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen und selbst für die eigenen Interessen aktiv zu werden, das ist doch schon eine Mobilisierungsleistung. Wir sollten auch von 1968 lernen, dass wir uns in unseren Möglichkeiten nicht allzu sehr verschätzen sollten.

Das hört sich an, als wären Sie noch ein ganzes Stück von der letzten Schlacht entfernt.

Wichtig ist erst einmal, dass wir am Sonntag wissen, wie unsere nächsten Schlachten aussehen könnten. Noch wichtiger ist: Dass wir selbst die nächste Schlacht bestimmen.

Und bis dahin: Mit wie vielen Spontandemos können wir am Wochenende rechnen?

Das jetzt schon zu verraten, wäre doch etwas langweilig. Halten wir es mal so: Auch unter den schwierigen Umständen heute gehört zur Theorie noch immer die Aktion - und ein gesunder Aktionismus ist sicherlich auch ein Teil des Erbes von 1968. In diesem Sinne freue ich mich auf das Wochenende.

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