Reformschulen-Initiative "Blick übern Zaun": "Gute Schule ist machbar"
Zur Schulinitiative "Blick über den Zaun" gehören 69 Reformschulen. Es sollen mehr werden - damit sich neues Lernen verbreitet. Merkmal guter Schule ist Respekt vorm Schüler, sagt Wolfgang Harder.
taz: Herr Harder, das Netzwerk reformorientierter Schulen "Blick über den Zaun" war bisher klein, aber fein. Jetzt drängen immer mehr in Ihren Kreis. Geraten Sie in eine Krise, wenn Sie so viele Schulen mit reformpädagogischen Hinweisen versorgen müssen?
Wolfgang Harder: Die Alternative "Exzellenz" oder "Fläche" ist so alt wie die Reformpädagogik. Sollen wir wenige beispielgebende Leuchttürme des neuen Lernens errichten - oder krempeln wir das Schulsystem flächendeckend um? Auch auf unserer anstehenden Tagung ist das ein zentrales Thema.
Spaltet die Frage Ihren Kreis?
Nein, denn allen Reformschulen ist klar, dass wir uns ausweiten müssen. Wir haben 15 Jahre lang wie in einer Nische gearbeitet, als kleiner exklusiver Kreis. Heute ist es so, dass sich jede Schule, die sich verändern will, etwas von unseren Konzepten abgucken kann. Umgekehrt ist es übrigens nicht anders: Wir wollen selber ja auch lernen von den Schulen, die neue Modelle des Lernens erproben.
Sind reformpädagogische Ideen gefragt?
Es gibt jetzt die historische Chance, die Konzepte des individuellen Lernens und respektvollen Umgangs in die Fläche zu tragen. Schulen interessieren sich für reformpädagogische Ansätze vor allem in zwei Situationen: Wenn sie neu anfangen, wie es etwa die Grundschule an der Kleinen Kielstraße in Dortmund getan hat - und damit den Deutschen Schulpreis gewann. Oder wenn Schulen in der Krise stecken. Dann sagen die Lehrer oft: "Dafür bin ich nicht Pädagoge geworden, es muss sich was tun." Und, pardon, Schulen, die in der Krise stecken, gibt es ja leider noch zuhauf.
Was haben die Blick-über-den-Zaun-Schulen den reformwilligen Schulen zu sagen?
Viel. Wir haben eigene Standards für gute Schule entwickelt. Bei uns gibt es in Broschürenform leicht verständliche Hinweise für den mitunter komplizierten Prozess der Schulentwicklung. Unsere Konzepte bilden ein gemeinsames Dach über der bunten Vielfalt unserer Mitgliedsschulen. Und wir sind, glaube ich, auch dafür gerüstet, uns zu verbreitern.
Warum das?
Wir werden bald eine Geschäftsstelle haben, von Stiftungen für die ersten drei Jahre lang finanziert, so dass wir noch schneller und professioneller auf Anfragen eingehen können. Wir sehen das als Aufbruch.
Reformpädagogik schreckt manchen ab, weil sie oft so spirituell und inbrünstig daherkommt.
Das hat sich gründlich geändert. Selbst bei Waldorfschulen hört man nur noch selten Sätze wie diesen: "Reinkarnation kann man nicht empirisch nachprüfen." Von unseren Schulen ist auch keine mehr auf dem Trip zu sagen, Leistung interessiert uns nicht - wir spielen lieber toll Theater oder machen einen wunderbaren Schulausflug.
Wie unterscheiden sich Ihre Schulen dann von anderen?
Ganz fundamental. Ich will gar nicht sprechen vom Epochenunterricht, den großen Schulprojekten, dem jahrgangs- und fächerübergreifenden Lernen - das alles ist, wenn auch oft in Schrumpfform, praktisch Allgemeingut an Schulen. Am wichtigsten ist mir, dass wir davon ausgehen, dass Lernen immer etwas mit Beziehung zu tun hat.
Was meinen Sie damit?
Die Beziehung zwischen dem Lehrenden und den Lernenden. Früher und auch heute noch in vielen Schulen wird das mehr oder weniger über nackte Autorität geregelt. Wir glauben, dass das nicht mehr funktionieren kann. Wenn Kinder sich nicht respektiert fühlen, dann lernen sie auch nicht. Das heißt, unser Konzept hat zum Inhalt, wie man den Kindern auf Augenhöhe begegnen kann. Nur von dort aus kommen wir zu dem, was wir früher Eigentätigkeit nannten. Also: dass Schüler sich die Gegenstände selber erarbeiten, dass Lernen etwas Aktives ist, dass sie es in starkem Maße selbst verantworten.
Manche meinen, das ginge nur mit Ihrer speziellen Klientel von bildungsinteressierten Eltern.
Das ist falsch. Es gibt keinen besseren Beweis als die Schulen, die sich aus der Krise aufgerichtet haben. Wenn sie sehen, welche Erfolge zum Beispiel die Berliner Heinrich-von-Stephan-Schule im heißesten denkbaren Brennpunkt mit Respekt und Würde feiert, dann sagt das viel über den Unterschied aus.
Der worin besteht?
Dass man Kindern am Ende der vierten Klasse nicht mehr sagt: Wir brauchen dich nicht, du gehst ab jetzt in eine Hauptschule! Du bekommst keine Chance! So darf man und so kann man mit Schülern nicht mehr umgehen.
Sie wissen, dass es nicht wenige Eltern gibt, die ihr Kind auf die Härten des Alltags vorbereitet haben wollen.
Ja, das sehe ich, aber das darf deswegen noch lange nicht Konzept einer Schule werden. Stellen sie sich vor, dass Sie mit Ihrem Kind auf eine lange, entbehrungsreiche Reise gehen.
Ich versuche es.
Wie bereiten Sie Ihr Kind darauf vor: indem Sie es tagelang hungern und dürsten lassen - oder indem Sie es satt machen? Genauso ist es mit dem Arbeitsleben, das uns ja auch tagtäglich zusetzt. Wir wollen unseren Kindern nicht mit Härte und Stupididität begegnen, damit sie später besser damit umgehen können. Sie sollen erwachsen werden im positiven Sinne - aber nicht indem wir ihnen die Neugier und Würde ihrer Kindheit stehlen.
Trotzdem: Viele Eltern denken so. Nicht umsonst sagen viele, "in der Schule beginnt der Ernst des Lebens". Wie gehen Sie mit denen um?
Unsere Schulen tun das mit einer sehr aktiven Elternarbeit. Es gibt immer noch zu wenige Schulen wie unsere, die Eltern in Fördervereinen, in Elterncafés, Schulkonferenzen, ja in die tägliche Arbeit miteinbeziehen. Als Inititiative Blick über den Zaun intensivieren wir diesen Dialog bei unserem jetzt bevorstehenden Treffen in Hofgeismar, zu dem wir Eltern aus den Landeseltern- und den Bundeselternvertretungen eingeladen haben. So wird zum Beispiel der Vorsitzende des Bundeselternrates Dieter Dornbusch bei uns zuhören - und selber auch referieren.
Haben Sie nicht Angst, dass konservative Elternvereine wie die in Niedersachsen oder Berlin Ihnen wieder vorwerfen, nur die Systemfrage zu stellen?
Nein, denn diese Frage steht bei uns gar nicht im Vordergrund. In unserem Netzwerk sind Schulen aller Schularten aus allen Bundesländern vertreten. Sie arbeiten unter normalen, also bescheidenen Bedingungen und machen trotzdem sehr gute Arbeit. Sie erzeugen den Enthusiasmus, den man an so vielen "Lehranstalten" vermisst. Sie zeigen, dass gute Schule geht.
Aber es ist dennoch anstrengend.
Ja, und das ist vielleicht die einzige Sorge, die ich habe: Viele Schulen wollen zu viel zu schnell machen. Wenn ich mir ansehe, welches Feuerwerk da auf den Homepages abgebrannt wird, wird mir manchmal bange. Schulen müssen elternorientiert sein, aber sie dürfen nicht sich selbst in ihrer Kundenorientierung verlieren. Nicht jede Schule muss alles anbieten, das weiß jedes Unternehmen heute, das sich auf sein Kerngeschäft konzentriert.
Und das wäre bei Schulen?
Für mich drückt sich das in drei Fragen aus: Erstens, nimmt die Schule jedes Kind als unverwechselbares, nicht austauschbares Individuum wahr - und das jeden Tag? Zweitens, erfahren die Kinder täglich, dass sie für andere wichtig sind? Drittens, gibt es dort Erwachsene, die ihnen Mut machen, erwachsen zu werden und ins Leben zu treten?
INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER
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