Österreich besteht gegen Polen: "Die Sensation von Wien"

Wieder entscheidet ein Elfer über Österreich - diesmal zugunsten der Gastgeber: In der Nachspielzeit gleicht Vastic aus. Nun hofft das Land gegen Deutschland auf eine "Sensation".

Haben noch eine Chance: Österreichs Spieler nach der Partie. : reuters

WIEN taz Mitternacht war nicht mehr weit, als sich die Nationalspieler Österreichs zum ersten Mal während der EM als Helden fühlen durften. Zumindest ein bisschen. Ivica Vastic nahm hinter dem Absperrband einen Sicherheitsabstand, vor ihm schoben sich die Journalisten hin und her und hielten ihm einen üppigen Strauß Mikrofone unter die Nase.

Eine halbe Stunde zuvor war Vastic, bald 39, zum ältesten Torschützen der EM-Geschichte aufgestiegen. Er hatte in der Nachspielzeit einen Elfmeter zum 1:1 gegen Polen getroffen und die Trauerstätte Ernst-Happel-Stadion doch noch in ein vibrierendes Freudenhaus verwandelt. Das Unentschieden hält die Chance der Österreicher auf das Viertelfinale am Leben. Vorausgesetzt ist ein Sieg gegen Deutschland am Montag an gleicher Stätte. "Es ist ein Spiel", blickte Vastic voraus. "Die sind angeschlagen. Wir werden sehen, wer die stärkeren Nerven hat."

Wenige Kilometer westlich, im Zentrum der Hauptstadt, zwischen Rathausplatz und Heldenplatz, fand das größte Volksfest dieses Turniers außerhalb eines Stadions statt. Mehr als 70.000 Menschen feierten in der Fanzone, die erstmals wegen Andrangs geschlossen werden musste. An den Tagen zuvor hatten Wirte und Verkäufer noch mit Klagen gedroht, da der Umsatz bis zu neunzig Prozent unter den Erwartungen lag.

Der Wiener Ring, der einer verlassenen Kirmes geglichen hatte, war nun übervoll. In der ganzen Stadt feierten die Österreicher das Remis wie einen Sieg, sie sangen in der U-Bahn, stürmten Denkmäler, schwenkten Flaggen. Ohne den späten Ausgleich gegen Polens Auswahl, deren Führung der gebürtige Brasilianer Roger Guerreiro erzielt hatte (30.), wäre neben der Schweiz auch der zweite Gastgeber gescheitert gewesen. Nach nicht einmal einer Turnierwoche. Aus dem lange geplanten Sommermärchen Reloaded wäre eine Public Horrorshow geworden.

Stattdessen darf sich Österreich nun auf ein Gruppen-Endspiel gegen den großen Nachbarn freuen. "Jetzt ist alles offen", sagte Kapitän Andreas Ivanschitz. Er hatte sich gegen Polen genauso gesteigert im Vergleich zum 0:1 gegen Kroatien wie seine Teamkollegen. Zunächst stürmten sie mit einer solchen Entschlossenheit auf das gegnerische Tor, als wollten sie den Sieg schon nach zwanzig Minuten perfekt machen.

Ergebnis: 1:1 (0:1)

Österreich: Macho - Garics, Prödl, Stranzl, Pogatetz - Leitgeb, Aufhauser (74. Säumel), Ivanschitz (64. Vastic), Korkmaz - Harnik, Linz (64. Kienast)

Polen: Boruc - Wasilewski, Jop (46. Golanski), Bak, Zewlakow - Dudka, Lewandowski, Krzynowek - Guerreiro (85. Murawski) - Saganowski (83. Lobodzinski), Smolarek

Schiedsrichter: Webb (England)

Zuschauer: 51.428 (ausverkauft)

Tore: 0:1 Guerreiro (30.), 1:1 Vastic (90.+3/Foulelfmeter)

Gelbe Karten: Prödl, Korkmaz / Bak, Krzynowek, Wasilewski

Beste Spieler: Stranzl, Leitgeb / Boruc, Lewandowski

Der Bremer Martin Harnik und der Salzburger Christoph Leitgeb hatten gute Chancen, scheiterten jedoch am besten Spieler des Abends: Polens Torhüter Artur Boruc. "Wir hätten 3:0 führen müssen", befand Österreichs Keeper Jürgen Macho und wiederholte: "Müssen!"

In der zweiten Hälfte baute Austria jedoch stark ab, die Gastgeber machten den Eindruck, als wären sie erschreckt von ihrer eigenen Tollpatschigkeit.

Das 1:1 war das gerechte Ergebnis zwischen zwei mittelmäßigen Mannschaften, dennoch wirkt es für Österreich wie ein gefühlter Sieg. Vielleicht wähnte sich Harnik deshalb stärker, als er tatsächlich war: Ich bin froh, dass wir es den Kritikern endlich einmal gezeigt haben. Die Deutschen stehen jetzt unter Druck und werden sich in die Hosen scheißen."

Das Adrenalin floss noch in Strömen, und so schienen die Österreicher plötzlich zu glauben, während eines einzigen Elfmeters zum Favoriten aufgestiegen zu sein. Dabei ist ein erspielter Punkt in zwei durchschnittlichen Heimspielen bei weitem keine glorreiche Bilanz. Als einer der wenigen Besonnenen zeigte sich Nationaltrainer Josef Hickersberger. Auf die Frage, ob das 1:1 einer Befreiung gleichkäme, antworte er: "Österreich ist ein freies Land, wir brauchen keine Befreiung."

Die international unerfahrenen Spieler des 92. Teams der Weltranglisten stehen nun vor dem Höhepunkt ihrer Karrieren. Die Hysterie in den Medien wird eine neue Stufe erreichen. Seit Wochen erscheinen die Zeitungen mit vielen Sonderseiten, der Österreichische Rundfunk bewältigt das aufwändigste Projekt seiner Geschichte, er überträgt die mittäglichen Pressekonferenzen des Nationaltrainers live.

Am Freitag überboten sich die Zeitungen mit Hymnen. "Erlösung", titelte der Kurier. "Der Traum lebt!", schlussfolgerte die Kronen-Zeitung. Die Blätter stilisierten Vastic zum Helden: "Um am Ende kam der Alte", dichtete der Standard. Es ist ein Vorgeschmack auf den "Super-Monday", glaubt schließlich Die Presse.

Und vermutlich wird auch die Geschichte von Córdoba wieder rauf und runter erzählt werden. 1978 hatte Österreich, mit Hickersberger als Spieler, die deutsche Elf aus der WM in Argentinien befördert. Viele Österreicher, Fans und Spieler, sind von den Erzählungen genervt, zugeben würden sie das nie, wie Diplomat Ivanschitz beweist: "Córdoba gehört zur Geschichte unseres Landes. Aber es ist Zeit, dass wir jungen Spieler für eine neue Sensation sorgen." Kurze Pause: "Die Sensation von Wien."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.