Debatte Altersteilzeit: Angriff auf den Körper

Der Streit um Altersteilzeit und "Rente mit 67" wird unehrlich geführt. Denn nicht jeder kann jenseits der 60 Jahre noch arbeiten. Die Frage ist: Wer darf künftig früher aufhören?

Man reibt sich schon ein bißchen die Augen, wenn man hört, wie derzeit über die Altersteilzeit gestritten wird. Die Sozialdemokraten schlagen vor, das frühere Ausscheiden aus dem Betrieb über die Altersteilzeit auch künftig von der Bundesagentur für Arbeit subventionieren zu lassen. Die Union ist dagegen und behauptet "wir brauchen ältere qualifizierte Mitarbeiter in den Unternehmen und nicht in der Frühpensionierung", so Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Ältere auf Jobsuche werden angesichts solcher Äußerungen nur bitter lächeln können.

Es zeugt nicht gerade von Ehrlichkeit, jetzt die tollen Möglichkeiten der über 60jährigen zu lobpreisen, nur weil man nicht so recht weiß, wie das künftig in der Wirtschaft gehen soll mit den Alten. Tatsache ist, dass es Millionen von Erwerbstätigen gibt und geben wird, die nicht bis 65, 66 oder gar 67 Jahren in ihrem Beruf ackern können. Diese Beschäftigtengruppen abzugrenzen, den Masstäb für besonders Beanspruchte zu definieren - das ist die neue Gerechtigkeitsfrage. Sie zielt direkt auf den Körper.

Heute ist nur ein Drittel aller 62jährigen berufstätig - da sind Selbständige, Mini- und Teilzeitjobber schon eingerechnet. Ein Drittel der Neuzugänge in die Altersrente kommen bereits aus einer Phase der Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Es gibt keine Anzeichen, dass sich dies verbessern sollte, wenn das Rentenzugangsalter auch noch auf 67 Jahre steigt. Es stimmt zwar, dass ab dem Jahre 2015 oder 2020 in der Wirtschaft zunehmend Fachkräfte fehlen, weil die Jugend ausbleibt. Doch diese Nachfrage dürfte den Millionen von verbrauchten, gesundheitlich Angeknacksten nichts nützen.

Es gibt Anzeichen dafür, dass sich mit dem Alter bestehende Ungleichheiten weiter vertiefen. Jeder kann sich einen Professor der Soziologie, eine Bankangestellte oder einen Wachmann vorstellen, die bis zum Alter von 65, vielleicht sogar bis zum Alter von 67 Jahren arbeiten. Aber eine 61jährige Krankenschwester auf Station, die Bettlägerige herumwuchtet, oder einen 62jährigen Monteur am Band, der immer noch im Takt Autoteile hebt, schraubt und sich dabei bückt und streckt - das sprengt unsere Vorstellungskraft.

Es ist kein Zufall, das die Beschäftigungsquote der AkademikerInnen unter den Älteren besonders hoch ist, die der FacharbeiterInnen hingegen erheblich niedriger. Wer also gut verdient, die nervlichen und körperlichen Belastungen ein bißchen selbst regulieren kann, der kann auch altern in seinem Job. Leute hingegen, die sich körperlich oder nervlich gar nicht schonen können, sind oft schon mit 60 Jahren aufgerieben.

Durch den späten Rentenzugang spaltet sich die Gesellschaft in Selbstbestimmte und Ausgelieferte. Dabei zählt nicht nur die Unterscheidung zwischen "geistigen" oder "körperlichen" Berufen. Die vielgescholtenen LehrerInnen beispielsweise sind ja nicht zufällig nervlich oft so früh ausgebrannt. Qua Tätigkeitsprofil können sie sich nicht innerlich zurückziehen und abschotten, sondern müssen ihre SchülerInnen täglich motivieren und disziplinieren. Ein Drittel der Erwerbsunfähigkeitsrenten werden übrigens schon heute aus "psychischen Gründen" gewährt; Tendenz steigend.

Nun könnte man einwenden, dass in den Firmen ein Umdenken einsetzen werde, die Arbeitsplätze altenfreundlicher gestaltet. Schließlich gibt es in den Konzernen bei AUDI und BMW schon einzelne Fertigungslinien, wo sich die Facharbeiter kaum noch bücken und auch nicht lange stehen müssen. Doch diese Bespiele betreffen nur eine kleine Gruppe der Beschäftigten - und dort auch nur 50jährige und nicht 60jährige Facharbeiter. Ein Bauunternehmen, das im knallharten Wettbewerb steht, wird für seine älteren Arbeiter kaum Hebehilfen anschaffen oder schonende Arbeitsplätze im Büro einrichten können. Hier setzt man die Älteren dann eben raus, wenn es irgendwie geht.

Die Frage also bleibt: Wem gewährt man künftig unter welchen Umständen einen früheren oder einen allmählichen Ausstieg - erst recht, wenn für die heute 44jährigen und Jüngeren die Rente mit 67 kommt? Ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, Berufsgruppen abzugrenzen, liefern die Österreicher. Dort existiert seit kurzem eine umstrittene "Schwerarbeiterregelung", nach der Leute in aufreibenden Jobs früher in Rente gehen dürfen. Zu den Hochbelasteten zählt der Gesetzgeber Menschen in Nachtschichten, PflegerInnen in Hospizen sowie Frauen, die während der Schicht 1 405 Kilokalorien verbrauchen - bei den Männern müssen es 2000 Kilokalorien sein. Solcherart Begriffsbestimmung der "Schwerarbeiter" gleitet schnell ins Skurrile ab, und ist daher problematisch.

In Deutschland sind nun mehrere Szenarios denkbar. Wer ganz großes Glück hat, darf in seinem Unternehmen bleiben, bis er 67 wird, oder er scheidet früher aus, wobei die Firma dann die Rentenabschläge ausgleicht. Langjährig Versicherte können ja auch in weiterer Zukunft noch mit 63 Jahren in den Ruhestand wechseln, allerdings mit 14,4 Prozent weniger Rente. Wer Pech hat, landet dagegen auf Hartz IV bis zum Ruhestand. Ausgelaugte können sich einen Teilzeitjob suchen. Dazu schlägt die SPD vor, dass schon 60jährige ausscheiden und eine "Teilrente" beziehen - mit unbegrenztem Hinzuverdienst. Dadurch entstünden ganz neue Teilzeitarbeitsmärkte für die Älteren.

Eine erleichterte Erwerbsminderungsrente wäre ein zweiter Weg. Jeder sechste Rentenneuzugang ist heute ein Erwerbsminderungsrentner, die Bestimmungen hierfür wurden vor Jahren verschärft. Für die 47jährigen und Jüngeren gelten besonders strenge Regularien. Wer von diesen Jüngeren gesundheitlich angeschlagen ist, aber theoretisch noch sechs Stunden am Tag als Pförtner arbeiten könnte, bekommt keine Erwerbsminderungsrente. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schlägt vor, gesundheitlich stark Angeschlagenen über 55 Jahren, die auf dem Jobmarkt keine Chance mehr haben, eine Erwerbsminderungsrente zu gewähren. Das muss diskutiert werden.

Der dritte Weg ist die umstrittene Altersteilzeit. Die SPD möchte, dass die Bundesagentur für Arbeit auch künftig Zuschüsse zahlt, wenn Unternehmen einen Beschäftigten etwa mit 61 Jahren aus dem Betrieb schicken und dafür einen Lehrling neu einstellen. Eine solche Verlängerung der Altersteilzeit wäre jedoch ein flächendeckendes, von anderen Beitragszahlern finanziertes Instrument, mit dem sich dann auch Leute auf weniger belastenden Arbeitsplätzen früher zur Ruhe setzen könnten.

Sinnvoller wäre es, im Betrieb ein begrenztes Kontingent an "Altersteilzeitlern" festzulegen. Wer das sein wird, entscheiden in den Unternehmen dann Betriebsrat und Geschäftsführung. Am Ende landet man dort in der Debatte, ob nur die DreischichtarbeiterInnen oder auch Controller, Entwickler und der Betriebsrarzt zu ausgebrannt sind, um weiterzumachen. Das ist zwar auch nicht schön. Aber dann wird dieser Streit wenigstens ehrlich geführt.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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