Kolumne Gerüchte: Auf dem Rücken des Panzerbärs

Um die elterliche Computerspiel-Paranoia zu heilen, sammele ich neuerdings Blutmoos.

Unser Nachbarskind Bernie zum Beispiel, damals Ende der 60er-Jahre, ich war zwölf Jahre alt. Bernie hockte jeden Tag nach der Schule in seinem kleinen Zimmer vor dem Plattenspieler. Er trug Kopfhörer, stieß undefinierbare Laute hervor und schaukelte mit seinem Oberkörper hin und her. Stundenlang. Als sei er ein ruhiggestelltes schwerbehindertes Kind in einem osteuropäischem Waisenhaus vor dem Umsturz. "Er lebt in seiner eigenen Welt", tauschten sich seine Eltern damals mit den meinigen aus, "wir machen uns Sorgen." Bernie hatte dann schon mit 29 seinen Doktor fertig und leitet heute erfolgreich eine Forschungsabteilung.

Bernie hat mich damals manchmal an seiner Welt teilhaben lassen, ich durfte die Kopfhörer überstreifen und mitsummen. "Streetfighting Man", "Ha Ha said the Clown", "With a little help from my friends" - ein Universum der Gitarrenklänge, Drumbeats und Refrains öffnete sich. Und dazu musste Bernie nur ein paar Platten auflegen. Der "Goldene Kompass" ist schon schwieriger zu bedienen. Ich habe mir das Computerspiel zum Geburtstag gewünscht. Ich will ein bisschen in die Welt meines Sohnes David eintauchen, einfach so. David hat mir gnädigerweise seine Playstation II überlassen, Das Spiel sei "was für Einsteiger", hat er gesagt.

Das Mädchen Lyra reitet auf dem starken Panzerbären Iorek durch die Eiswüste, bekämpft Wölfe, überspringt Schluchten und versucht, einen kleinen Jungen vor den Samojeden zu rettern. Dazu ertönt elegische Musik. Mit dem linken Daumen auf dem Analogstick leite ich den Panzerbären durch das Eis, was erstaunlich hohe Anforderungen an meine Feinmotorik stellt. Bei den heutigen Teenagern ist wahrscheinlich jener Hirnbereich, der mit der Beweglichkeit des linken Daumens verbunden ist, hochentwickelt wie bei Konzertgeigern. Bei mir aber nicht. Mit dem viel fitteren rechten Daumen darf ich leider nur die Kampfsymbole drücken, das Quadrat bedeutet "Angriff", der Kreis "Wutangriff". Immer wieder stellen sich Iorek aufdringliche Wölfe in den Weg. Aber dank meiner Intervention weiß sich mein Bär zu helfen, schlägt heftig um sich, erledigt die penetranten Tiere. Wusch, wusch, wusch - an diesem zischenden, knallenden Geräusch, das seine Prankenhiebe verursachen, haben die Soundingenieure bestimmt lange gearbeitet. Zwischendurch lasse ich Iorek über feuerrote Zweige laufen, er sammelt "Blutmoos", um zu Kräften zu kommen.

Computerspielen hilft der Stimmungsregulation, ergab unlängst wieder irgendeine neue Studie. Nur wenn man alle sozialen Kontakte sausen lässt und nur noch am Bildschirm hängt, wenn einem der kalte Schweiß ausbricht, so man kein Spiel zur Verfügung hat, dann ist die Sache pathologisch. Ich habe andere Probleme. Iorek tut sich jetzt wirklich schwer mit dem schmalen Eispfad, über den ich ihn leiten muss. Links und rechts Abgrund. Und immer wieder bricht das Eis unter seinen Füßen weg, ich muss ihn schneller laufen lassen, aber nicht zu flott, denn sonst saust er über die Ränder des Pfades hinaus in den Abgrund. Donner, berst, splitter, weg ist mein Bär. Danach gibt es ein friedliches Klarinettengetröte und Iorek steht wieder unversehrt am Anfang des Eispfades, geduldig auf meinen linken Daumen wartend, als wäre nichts gewesen.

Eins muss man wirklich sagen: Das Selbstvertrauen leidet nicht durch Computerspiele, da sind sie rücksichtsvoll. Es hat keine wirklich ernsten Folgen, wenn man Scheiße gebaut hat. Aus Davids Zimmer höre ich vertraute Hörnerklänge, Böllereien, Schüsse. Mein Sohn ist ja schon fortgeschritten. Er spielt an seinem Computer "World of Warcraft", schon auf Level 60, mindestens. WOW spielt man nicht an der Playstation, sondern ordentlich mit Maus. David hat es schon zu mehreren Reittieren gebracht, die auch fliegen können. Hat ja auch unzählige Stunden harter Arbeit gedauert. Er zockt gleichzeitig mit seinen Freunden, man ist gemeinsam online und begegnet sich in verschiedenen Charakteren in der Fantasiewelt.

Ich bin dagegen mit Iorek allein. Er kann nicht fliegen, sondern nur springen über Felsspalten, dazu muss ich das Dreieck drücken. Spring! Donner, splitter. "Es nervt ein bisschen" brüllt Christoph aus der Küche, "kannst du das nicht leiser stellen?" Vielleicht liegen ja irgendwo noch ein Paar Kopfhörer herum.

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