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Dorothea Ridders Arzthelferinnen erzählenIn der Gemeinschaftspraxis

Renate Günther und Barbara Eilenberger haben jahrelang gemeinsam mit der Ärztin Dorothea Ridder in deren Praxis am Berliner Nollendorfplatz gearbeitet - und erinnern sich.

Die Rezeption in der Praxis Dr. Ridder Bild: E. KMÖLNIGER

"Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens.

Und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual." Erich Fried

Renate Günther, 1953 in Coburg geboren, arbeitete als Arzthelferin von 1982 bis 1997 an der Seite der Ärztin Dorothea Ridder. Sie machte nach Dorotheas Schlaganfall eine Ausbildung als Heilpraktikerin u. Gestalttherapeutin, machte sich selbstständig und arbeitete im Berliner Zentrum für Frauentherapie "mandala".

Barbara Eilenberger, geb. Fischer, 1958 in Lörrach geboren, Arzthelferin, arbeitete ebenfalls lange Jahre mit Dorothea Ridder zusammen. Sie arbeitet seit 1997 in verschiedenen Praxen weiterhin als Arzthelferin, ist verheiratet und hat eine Tochter.

Elisabeth und ich trafen die beiden Frauen an einem warmen, klaren Oktobertag 2007 in einem Gastgarten am Fehrbelliner Platz. Wir tranken im Schatten der Bäume trübe Apfelschorle, der Kies knirschte unter den Schritten der Gäste und der Jack-Russel-Terrier von Barbara langweilte sich oder verfolgte Wespen. Die Stimmung war heiter und entspannt. Nichts deutete darauf hin, dass Renate kurze Zeit nach diesem Treffen eine vollkommen aussichtslose Krebsdiagnose gestellt bekommen würde. Sie starb im Dezember 2007.

R: Ach Dorothea … das finde ich gut, dass wir helfen sollen, ihre Gedächtnislücken wieder zu füllen. Sie ist sich darüber, glaube ich, sehr bewusst, dass sie die hat, weil sie eben auch merkt, in Alltagssituationen, was zehn Minuten vorher oder zehn Jahre vorher war, ist mal da und dann wieder weg. Da kommt natürlich eine große Traurigkeit bei ihr auf. Also ich kenne Dorothea nun seit 25 Jahren und gearbeitet bei ihr habe ich 15 Jahre. Es war mehr ein Miteinander als ein Bei-ihr-Arbeiten. Weil wir dann auch richtig Freundinnen wurden. Ich habe ja noch in ihrer ersten Praxis angefangen, und als sie dann zum Nollendorfplatz ist, bin ich natürlich mitgegangen. Und irgendwann kam unsere Freundin Barbara dazu. Das muss so um 85/87 gewesen sein. Ich habe mich über eine Annonce beworben. Renate und Dorothea saßen gemeinsam im Zimmer und ich wusste im ersten Augenblick nicht so richtig, wer ist jetzt wer. Und irgendwie waren beide einverstanden, ich habe dann auch angefangen und es hat sich wirklich eine tolle Freundschaft entwickelt, mit Dorothea, mit Renate und auch den anderen Kolleginnen, Iris, Kirsten. Wir sind alle heute noch befreundet und treffen uns ab und zu. Wir hatten ein gutes Betriebsklima. Absolut. Dorothea war der Typ Mensch, der nie den Chef raushängen lässt. Sie war unheimlich loyal uns gegenüber. Hat uns auch Freunden und Patienten gegenüber immer als Mitarbeiter vorgestellt. Normalerweise ist es ja nicht nur der Arzt, es sind auch die Patienten, die zum Teil die Arzthelferin nicht für voll nehmen. Das war bei uns wirklich anders. Wir haben uns alle geduzt und wir konnten alle sehr selbstständig arbeiten. Und Arbeit gabs genug! Ja, die Praxis war immer voll. Dazu kam aber, dass sich im Laufe der Zeit die Bedingungen geändert haben. Der ganze schriftliche Aufwand war viel, viel mehr geworden, das hat dann schon genervt, dieser ernorme bürokratische Aufwand, der den Ärzten abverlangt wurde. Das war nichts für Dorothea. Sie hat immer gesagt: Ich bin keine Unternehmerin, ich bin Ärztin. Das war sie tatsächlich, das war ihr Leben, wie sie sagt. Sie hat immer die Praxis an die erste Stelle gestellt. Das klingt jetzt, als wäre sie, na, ein Engel gewesen … Also wir hatten natürlich auch Meinungsverschiedenheiten, aber Dorothea war NIE nachtragend. Überhaupt nie!

Ich kann mich einfach nur wiederholen, sie war großartig, als Mensch und auch als Ärztin. Da hatte sie auch nicht die üblichen Vorurteile der Ärzte gegen Alternativen zur Schulmedizin, sie war immer neugierig und hat dazugelernt. Sie hatte ja eine Zeit lang in Indien gelebt, da fing wohl alles an, dort hat sie Kurse gemacht, und wir hatten ja auch eine chinesische Ärztin mal in der Praxis, die auch mit Akupunktur gemacht hat und dergleichen. Dorothea war ganz normale Hausärztin und ansonsten querbeet. Sie hat Ultraschall gemacht und am Anfang auch noch gynäkologische Untersuchungen - bei Männern gern auch mal eine proktologische Untersuchung. Halt alles, was so in der Allgemeinmedizin anfällt. Labor hat sie auch geliebt.

R: Was auch noch wichtig ist: unsere Methadongeschichte. Sie hat über Jahre Drogenabhängige mit Methadon versorgt, das Programm war ja damals ganz neu. Sie hat sich da sehr eingesetzt. R: Die Praxis war einfach anders, und das lag, glaube ich, daran, dass sie keine typische Ärztin war, also von der autoritären Art. Sie war einfach ein Mensch. Hat menschlich geguckt und behandelt, und die ganze Praxis so geleitet. B: Sie hat sich für die Patienten wirklich interessiert, nicht nur für die Krankheit. R: Und sie hat die Patienten nicht eingeschüchtert mit so "Halbgott in Weiß". Wir haben nicht mal Kittel getragen. Dorothea hat manchmal einen getragen. Wir waren einfach weiß angezogen, Hose und T-Shirt, fertig, also es war schon Arbeitskleidung, aber nicht so in steriler Art. Und Dorothea hatte nie Berührungsangst, ob das jetzt aidskranke Prostituierte waren oder Fixer. R: Das war das Schöne, dass Dorothea keine Vorurteile Leuten gegenüber hatte. Das hat sie gezeigt und einfach keine Unterschiede gemacht. Für sie war eine Prostituierte und ein Drogenabhängiger genauso ein Mensch und wichtig wie Herr Dr. Soundso oder ihr Anwalt. Das war unglaublich. Das war SIE, das war sie wirklich! R: Wir hatten ja sehr unterschiedliche Patienten, manchmal auch etwas krasse, aber Dorothea hatte nie Angst, das kannte sie nicht. Und wir hatten eigentlich auch keine, denn sie gab uns irgendwie Sicherheit. Es gab mal eine Situation, wo ein Patient in die Praxis reinkam, sehr aggressiv, er brauchte seine Beruhigungstabletten, die er nur bedingt bekam, wegen der Abhängigkeitsgefahr. Ich habe ihm gesagt, er soll sich setzen, es dauert eine Weile. Er wurde stinksauer, holte ne Knarre aus der Tasche, legte sie vor mich hin und sagte: Sofort kommen die raus, meine Tabletten! Ich war trotzdem ruhig in dem Moment, sagte, na gut, kleinen Moment. Und bin zu Dorothea rein, die grade einen Patienten behandelte. Ich habe ihr den Namen des Patienten und groß das Wort Knarre auf einen Zettel geschrieben. Sie hat sofort kapiert, kam raus und hat gleich total deeskaliert, so in ihrer eigenen liebenswürdigen Art, ist ja schon gut, komm mal rein … und die Sache war aufgelöst. Ja, das war einfach ihre Art.

Und jetzt grade erinnere ich mich an eine andere schräge Geschichte: Und zwar war das ein sehr junger Mensch, er war etwas durchgeknallt. Der hatte sich ein bisschen in Dorothea verliebt, glaube ich, denn sie hatte diesen Patienten, der wahrscheinlich nur selten was Gutes erfahren hat, sehr gut behandelt. Der hatte ganz wenig Geld, war auch meist obdachlos, und der ging irgendwie in den Supermarkt runter und klaut da ein Suppenhuhn, tiefgefroren. Nach der Mittagspause kam er und legte uns dieses halb aufgetaute Huhn auf den Tresen: "Geschenk für die Frau Doktor!" Sie hat sich dann wirklich ganz höflich bedankt, obwohl sie das blutige Suppenhuhn eklig fand. Ja also, sie war immer so die Grande Dame auch. Stimmt. Es gab da zum Beispiel auch einen ganz reichen Patienten, den sie mal behandelt hatte damals, und der ist mit ihr ein paar Tage später im Rolls-Royce über den Kudamm gefahren. Also ich will nur sagen, sie konnte mit jedem. Und das lag zum Teil daran, dass sie die Leute auch mitgerissen hat, mit ihrer guten Stimmung. Sie war eigentlich immer gut gelaunt. Sie kam morgens fröhlich rein und hat sich auf ihre Arbeit gefreut. So war sie den ganzen Tag über. Sie war unglaublich charmant, hat auch gerne ein bisschen geflirtet mit den Patienten, mit Männern und Frauen. (Beide lachen.)

Sie war ein sehr körperbetonter Mensch. Und Dorothea hat früher viel gelacht, total viel, bis zu dem Moment, wo es dann etwas viel Stress gab in der Praxis. Ja, weil ein neuer Partner mit dazugekommen ist. Wir waren eigentlich von Anfang an nicht so richtig begeistert, weil wir schon wussten, dass es sich finanziell nicht rechnen wird, dass es nicht funktionieren kann, und dann wurde ja auch die Miete total erhöht, damals, als er reinkam als Partner.

Hat dann auch nicht funktioniert. Also sie haben gemeinsam abgerechnet und haben eine gemeinsame Kasse gehabt. R: Sie haben quasi halbe-halbe gemacht, ja, wobei es dann aber so war, dass sie meist 80 % gearbeitet hat und er nur 20 %. Andererseits, stundenmäßig war er gar nicht mal so viel weniger da. Ich habe das anders in Erinnerung, ich glaube, Dorothea war einfach immer mehr da. Und sie hat generell mehr und dann vielleicht auch schneller gearbeitet, weil sie die Leute ja viel besser kannte als er. Wenn sie in Urlaub war, gingen die Patienten danach alle wieder zu ihr zurück, er konnte sie einfach nicht halten. R: Er sollte Dorothea ja eigentlich entlasten, das war ja der Grund, weshalb sie ihn reingenommen hat. Sie meinte, dass sie es nicht mehr so gut allein schafft. Und da gabs ja vorher diese blöde Geschichte, von der Sie sicher schon gehört haben, oder? Dorothea hatte freitags immer einen Vertretungsarzt, und es stellte sich heraus, das ist ein Schwein, er hat sie ganz doll betrogen, hat irgendwie Sachen gefälscht und wollte sie erpressen, wollte eine irrsinnig hohe Summe. Das hat sie dann der Kriminalpolizei übergeben und die haben den verhaftet. Danach meinte sie dann, es sei gut, wenn jemand fest mit dabei wäre, der mehr Entlastung bringt. Einen Tag frei, das brauchte sie auch. Die meisten Ärzte machen ja Mittwochnachmittag und Freitagnachmittag frei. Gut, und der, der kam, hatte vorher auch mal Vertretung gemacht, wir kannten ihn schon. Er war ja ein ganz Netter. R: Aber das spitzte sich im Laufe der Zeit dann doch sehr schnell zu, weil sie natürlich bald mitbekommen hat, dass sie auch nach der Einarbeitungszeit noch mehr arbeitet als er. Aber er hat das überhaupt nicht eingesehen. R: Sie hatte mit ihm natürlich Auseinandersetzungen, aber der war stur. Dann wollten sie sich trennen. Und es war ein paar Tage quasi vor Unterschriftsleistung, dass sie den Schlaganfall dann bekommen hat. Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn sie ihn nicht mit reingenommen hätte. Die Praxis hätte sich auch besser getragen. Sie hat sich ja auch vorher gut getragen.

Also Dorothea war einfach keine Geschäftsfrau. Sie hat zwar nicht auf großem Fuß gelebt … Sie war ganz sparsam. Aber sie hat eine Menge Geld weggegeben, an Freunde und Bekannte verliehen, und zum Teil nie zurückgekriegt. Wir hatten einen ziemlich guten Überblick über die Finanzen, wir haben ja die Abrechnung gemacht. Stimmt schon, sie hat auch mal einen Patienten gratis behandelt, wenn der nicht versichert war und kein Geld hatte, das hat sie gemacht, aber das fiel ja alles nicht ins Gewicht. Nee, ich glaube, dass diese hohe Miete, die hatte sich ja plötzlich verdoppelt, ein Riesenpunkt war, aber weil Dorothea eben keine Wirtschafterin war, hat sie sich einfach nicht darum gekümmert. Sie hat sich um ihre Patienten gekümmert - und um seine letztlich auch. Sie hatte allein 1.300 bis 1.500 Patienten, im Sommer vielleicht 200 bis 300 weniger, aber immer 1.000 im Quartal. Ich meine sogar, dass wir zum Teil 1.800 Scheine hatten. Also sie hat richtig lang gearbeitet. Sie saß manchmal bis neun, halb zehn in der Praxis, von morgens an! Mittagspause war auch oft keine. Oder es wurden ein paar Spaghetti unten geholt, die haben wir zusammen gegessen. Das hört sich jetzt schrecklich an, ja, aber wir haben das mitgetragen, weil wir sie gern hatten und unsere Arbeit gern hatten. Und wir mochten uns untereinander. Wir haben natürlich zusammengehalten. Klar! Das war ganz normal. Ich habe morgens um halb neun oder um neun angefangen. Wenn wir Blut entnommen haben, um acht. Dorothea kam so um halb zehn. Und abends ging es halt lang, weil es einfach voll war. Dorothea hat auch viel Hausbesuche gemacht, morgens, oder abends nach der Praxis.

Was auch ganz wichtig war, dass damals die sogenannte Kostendämpfung die Situation vieler Ärzte und auch Psychologen sehr verschlechtert hat. Durch die Einführung dieser Budgetierung im Gesundheitswesen wurde plötzlich viel weniger angerechnet. Die Punktwerte sind total gesunken, also beispielsweise waren das pro Patient und Abrechnungsziffer 45 DM im Quartal, egal ob der Patient einmal oder zehnmal da war. Alles, was drüberlag, wurde quasi abgezogen. Und wenn die Bewertung dauernd runtergeht, wird weniger Geld bezahlt. Wir konnten das aber nicht ausgleichen durch mehr Patienten, das war einfach nicht zu schaffen und wäre auch für die Patienten schlecht gewesen. Sie hat ja zum Glück noch ein bisschen Gerätemedizin gehabt. Und das Labor, aber das hat sich dann auch nicht mehr gerechnet. Es wurde immer weniger Geld bezahlt, und alles andere wurde teurer. Und die Dorothea, die mit den Patienten immer gern und viel geredet hat, also das war dann auch nicht mehr vorgesehen im Budget. Wir haben uns gefragt, was ist denn das für ein Gesundheitswesen, wo der Arzt, wenn er gründlich und gut behandelt, zur Strafe die Unkosten selber tragen muss?! Genau. Und das alles hat dazu beigetragen, dass die Situation sich sehr verschlechtert hat, und den Stress hat sie dann nicht mehr bewältigen können. Ging nicht. Das letzte Jahr war besonders anstrengend. Auch zwischen den beiden. Wir haben ja auch zusammengesessen und darüber gesprochen, aber das hat überhaupt nichts gebracht. Nee, sie konnte sich gegen ihn einfach nicht durchsetzen, die Dorothea, das hat er nicht zugelassen.

Manches geht im Alltag unter, aber wenn ich so zurückdenke, es gab schon Anzeichen bei Dorothea, sie hat sich verändert. Sie wurde ein bisschen schusselig. Sie hatte so eine Unkonzentriertheit am Schluss. Ich denke, es war gar nicht böse, nicht beabsichtigt, aber sie konnte teilweise eben nicht mehr zuhören. Und oft war sie kurz angebunden, aber ich denke mal, aus Unsicherheit, weil sie den Faden verloren hatte, nicht wusste im Moment, worum es geht. Ich habs als schusselig bezeichnet, besser gesagt, sie war fahrig. Ja, ja, und ich glaube, das waren schon die Vorboten einer schlechten Gehirndurchblutung, und der Stress hat sich gesteigert. Der Schlaganfall war dann ganz plötzlich gekommen, zum Wochenende, wie sie draußen war in ihrem Häuschen am Seddiner See. Ja, stimmt, die andere Sache war auch am Wochenende, das muss zwei Jahre davor gewesen sein, da hatte sie einen Magen-Darm-Verschluss und musste operiert werden. Hat sie da eine Reha gemacht? Nein, sie war überhaupt nicht lange weg, weil sie gleich wieder arbeiten wollte. Aber nach dem Schlaganfall, da hat es sich für uns relativ bald herauskristallisiert, dass es nun wohl nicht mehr geht. Dorothea selbst hat noch lange gehofft, dass sie wieder arbeiten kann. Sie wollte wenigstens noch irgendwas nebenbei machen, Akupunktur, aber es ging nicht. Sie musste das erst mal lernen, diese Geduld, und Schritt für Schritt selbst Patient zu sein … Und für uns war das natürlich auch ein großer Schock. Wir haben dann erst mal weitergearbeitet. Das war wieder das Gute, dass der Vertrag noch nicht gelöst war, denn nun musste der Partner ja für sie arbeiten und alle Verpflichtungen erfüllen. Es war vertraglich festgehalten, ich glaube, ein Jahr musste er für sie noch arbeiten. Und wie lange sind denn wir eigentlich noch …? Ich bin ziemlich bald raus, er hatte uns alle gefragt, ob wir bleiben wollen. Wir haben alle gesagt: NEIN! Nur Iris ist noch ne Weile geblieben - wir waren vier Arzthelferinnen, am Ende.

Das war 1997, ich glaube im Juni. Ja. Ich habe vor fast zehn Jahren aufgehört. Dorothea war damals Mitte 50. Ich war ja von Anfang an dabei, und sie hat immer gesagt: Renate, wir werden zusammen alt! Und einmal, da hat sie mir ein ganz tolles Geschenk gemacht zum Geburtstag. Sie hat mir eine Reise nach Paris geschenkt, mich eingeladen, dann sind wir fünf Tage zusammen in Paris gewesen. Das war so toll, das war so schön! Das werde ich nie vergessen. Das war schon was Besonderes, ein schönes Geschenk. Ich war ja nicht so lange wie Renate dabei, wann bin ich denn … Moment … meine Tochter ist 1982 geboren, also bin ich so Mitte 85 dazugekommen. Genau. Also ich bin 15 Jahre ungefähr bei ihr gewesen, du zwölf. Das ist ja ziemlich lang im Leben. Das heißt schon was! Und 97 war es dann eben zu Ende. Ihr Partner hat ja die Praxis erst mal weitergeführt, er ist dringeblieben und hat noch jemand mit reingenommen. Aber die haben dann beide auch aufgegeben. Sie sind woanders hin. Er arbeitet jetzt, glaube ich, in England. Viele Patienten von Dorothea waren eben mit der Zeit weggeblieben - nicht nur die Prominenz. (Beide lachen.)

Wir fragen nach Udo Lindenberg. R: Der war auch da. Am Abend, als wir schon weg waren (lachen), er wollte nicht gesehen werden. Aber sie waren nicht alle so scheu. Also Erich Fried zum Beispiel gar nicht, er hat mit uns ganz normal geredet. Na ja, der war ja auch ein guter Freund von Dorothea. Also an Erich kann ich mich gut erinnern, er war ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Ich habe ja seine Gedichte schon immer geliebt und habe es sehr genossen, ihn kennenzulernen. Ich habe auch ein spezielles Gedichtebuch, von ihm unterzeichnet, von ihm geschenkt bekommen. Hat mich sehr gefreut. Also er ist, immer wenn er in Berlin war, da gewesen. R: Und er hat ja auch ganz oft bei ihr gewohnt. Er hatte seine Krebsbehandlung zwar in England und alles, aber sie hat sich da sehr reingehängt, ihm menschlich und medizinisch zu helfen. Hat allerhand versucht, aber letztlich ist er dann doch daran gestorben. Das muss so ihm Herbst 1988 gewesen sein? Ich weiß noch, wie wir alle traurig waren darüber.

Also Dorothea hat immer sehr viel probiert. Und sie hatte, das ist wirklich so, ein inneres Gefühl dafür, wenn jemand wirklich ernsthaft krank war. Und dadurch ist einiges auch entdeckt worden, durch dieses Feine … durch ihre Antennen. Dann hat sie gleich Maßnahmen getroffen oder entsprechend die Leute weitergeschickt zum MRT, zum Spezialisten oder was auch immer. Und sie hatte sehr ungewöhnliche Ideen, wie sie ihren Patienten helfen kann. Also Behandlungsideen, oder auch Vorschläge. Ich erinnere mich an eine Frau, die hatte irgendwie auch ein schweres psychisches Problem. Sie konnte nicht so gut mit anderen Menschen umgehen und wollte das auch nicht, sie hatte mit der Arbeit Probleme und mit allem. Und da hat Dorothea die Idee gehabt, sie soll doch einfach in der Pathologie arbeiten. Ich hab damals nur geschluckt, als ich das gehört habe. Aber später habe ich die Frau wiedergesehen, sie hatte sich tatsächlich beworben und hatte einen Job in der Pathologie. Ich habe gesehen, wie es ihr gut geht, wie sie ihr Leben auf die Reihe gekriegt hat, und dachte mir, Mensch! Das war ein dolles Ding von Dorothea! Ich kann mich an die Geschichte gar nicht erinnern. Also das fand ich faszinierend. Und mutig auch (lacht). Man muss erst mal auf so eine Idee kommen! Das war wieder diese feine Antenne, die sie da hat. Die Patienten haben das gespürt. Sie hatte ganz langjährige Patienten, die aus der alten Praxis gefolgt sind, und zum Teil lange Wege machten, durch die ganze Stadt bis zum Nollendorfplatz. Man kann sagen: Dorothea ist von Jung und Alt geliebt worden. Ja. Von meiner Tochter auch, sie war viel da. Ich war damals alleinerziehend und hatte anfangs keinen Kindergartenplatz. Und da habe ich meine Tochter mitgebracht, sie hat im Wartezimmer gespielt und die Patienten unterhalten. Das war echt toll. Weil sonst hätte ich gar nicht gewusst, teilweise, wie ich das bewerkstelligen soll. Solche Sachen haben Dorothea eben auch ausgezeichnet, dass sie diese große Toleranz hatte. Ich habe mich bei der Bewerbung auch vorgestellt als Alleinerziehende, obwohl man meistens dann ja doch eine Ablehnung bekommt: Danke, das wars! Und Dorothea hat gesagt, wir probieren es einfach. Und sie fand das gut, das ich meine Tochter mitbringe. Da war ihre menschliche Seite auch wieder ganz stark vertreten. Sie hatte so was Verlässliches, in allen Lebenslagen. Man konnte auf sie zählen.

Meine Freundin Elisabeth fischt eine Wespe aus ihrer Schorle und fragt, ob Dorothea denn auch über ihre politische Vergangenheit gesprochen hat. Nee … Mit mir schon, ja, aber ich möchte eigentlich darüber nicht allzu viel sagen ohne ihr Einverständnis. Wir alle wissen um ihre politische Vergangenheit, von der Kommune I - und dass sie im Knast war wegen Unterstützung der RAF, wussten wir. Na ja, Manfred war klar, und viele Freundinnen von ihr sind klar, Astrid Proll war auch schon mal in der Praxis. Ja, anfangs. Und dann war ja die Irene bei uns, die Irene Georgens. (Anm. G. G.: Irene Georgens gehörte als sehr junges Mädchen zur Avantgarde der Heimbewegung, sie war Insassin eines geschlossenen Erziehungsheimes und lehnte sich dort massiv auf gegen Freiheitsberaubung, Unterdrückung und das angebliche pädagogische Modell dieses Heimsystems. Lange bevor sie als Mitglied der RAF an der Baader-Befreiung teilnahm, hat sie Aufstand im Heim gemacht, "Bambule". Das gleichnamige Drehbuch von Ulrike Meinhof basiert auf ihren Erfahrungen als Heimzögling.) Sie hat bei uns die Ausbildung zur Arzthelferin gemacht. Sie hat auch noch ein Buch geschrieben später. Aber noch mal zu Manfred. Also die Hochzeit mit ihm hat sie total geheim gehalten. Kam aber mit dem Ehering an. Und dann sagte sie einfach nur: Wir wollen heute zusammen was feiern. Und ich habe gefragt: Was denn? Und sie: Wir gucken mal … Und dann musste Kirsten Sekt holen gehen und wir haben alles erfahren … Also ich wusste vorher, dass da so verstärkt Kontakte aufgetreten sind und Telefonate geführt, Briefe gewechselt wurden. Und sie ist ja immer zu ihm runtergefahren mit ihrem Honda Civic, hat ihn im Knast besucht. Also es war klar, es war was im Busch, aber ich habe nicht mit einer Hochzeit gerechnet. (Beide lachen.) Jedenfalls, wir haben das gefeiert und ihr gratuliert. Und dann haben wir irgendwann Manfred kennengelernt, als er rauskam. Wir mochten den auch gern. Und sie hatte ja auch noch Andrew, das war dann, glaube ich, auch ein bisschen schwierig … Mhm…

R: Letztlich ist sie dann alleine geblieben. Das ist eigentlich ziemlich bitter, oder? Weil sie auch wirklich viel für andere getan hat auch. Das ist eine allgemeine Erfahrung, die alle Leute machen, die so schwer erkrankt sind. Hab ich auch im eigenen Familienkreis erlebt. Na ja, es verändern sich auch Sachen. Wir sehen Dorothea ja auch nicht mehr so oft - ich jedenfalls. Es verändert sich das Leben. Die Interessen und die Dinge, die man so macht, sind andere. Aber sie hat ja zum Glück ihre Freundin Claudia, die sich damals auch um die Praxisauflösung gekümmert hat, was nicht leicht war, denn es gab nur eine einzige Interessentin. Sie hat sich da sehr bemüht. Deshalb ist es auch sehr schade, dass Dorothea so oft das Gefühl hat, dass sie damals gelinkt worden ist. Ist sie nicht! Also ich empfinde es eher so, dass sie gelinkt worden ist von Leuten, denen sie Geld geliehen und es nie wiedergesehen hat. Bis heute nicht, wo sie es brauchen könnte. Also Claudia hat sich damals sehr gekümmert, hat im Krankenhaus bei ihr am Bett gesessen, mit den Ärzten geredet, und sie kümmert sich auch heute noch. Ich kriege das immer mit, weil ich ja im gleichen Haus in der Praxis arbeite. Wie Dorothea jetzt im Krankenhaus war, als sie den letzten Anfall hatte, wollten sie sie am selben Tag entlassen, und da hat Claudia mit Astrid gesprochen und ihr gesagt, sie soll versuchen, dass sie sie noch über Nacht behalten, damit das eben die Versicherung bezahlt - das ist nämlich auch so ein Punkt, sie ist nur versichert fürs Krankenhaus, für stationäre Behandlung, alles andere muss sie selbst bezahlen, auch den Krankenwagen. Astrid wusste das nicht. (Anm. G. G.: Dorothea war mit Astrid Proll im Kaufhaus und bekam dort einen Anfall. Sie hat normalerweise einen Zettel dabei, auf dem sie bittet, keinen Krankenwagen zu holen, weil sie ganz von selbst wieder zu sich kommt. An diesem Tag hatte sie den Zettel nicht dabei.)

Aber es ist ganz erstaunlich, wie sehr sich ihr Zustand insgesamt verbessert hat. Ja, ja! Wir haben sie ja damals nach dem Schlaganfall mehrfach besucht, haben uns auch hinterher getroffen. Anfangs konnte sie schlecht sprechen. Sie hat versucht zu reden, aber … Wir haben uns dann einfach in den Arm genommen und ich habe gesagt: Dorothea, es ist okay, lass mal, werd gesund, lass uns gucken, was wir machen können. Sie hat zu allem auch noch diese Hüftbeschwerden und es war lange Zeit für sie eine Mordsarbeit, dahin zu kommen, wo sie heute ist. Sie geht ja fast geschmeidig. Verbunden mit eiserner Disziplin … Sie kann den Fuß nicht mehr heben, sie muss sich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren. Und wenn sie da mal eine Sekunde unaufmerksam ist, kann sie hinfallen. Sie hat schon ganz schön heftige Stürze gehabt. Und sie hat ja auch Krankengymnastik gemacht über Jahre, macht Feldenkrais. Sie musste lernen, überhaupt den Arm wieder heben zu können, das ging nicht mehr. Und sie hat nie wieder mit dem Rauchen angefangen. Sie hat sehr gerne geraucht, früher. Spontan fällt mir jetzt ein, dass Dorothea mehrfach mit dem Rauchen aufgehört hat. Und dann kam sie immer ganz stolz in die Praxis und verkündete: Ich rauche nicht mehr! Und wenn man dann im Lauf des Tages - wir hatten also eine Personaltoilette, die fensterlos war -, wenn man dann nach Dorothea auf die Toilette ging, dann kamen einem schon die Rauchschwaden entgegen. (Beide Frauen lachen sehr herzlich.) Und wenn man sie ansprach, dann sagte sie: Nein, ich rauche nicht mehr!

Sie hat sich damals auch akupunktieren lassen. Ja, aber es hat nichts genutzt. sie ist ja fest davon überzeugt, hat sie unlängst gesagt, dass sie den Schlaganfall durchs Rauchen bekommen hat. Mhm … ich denke, es gibt mehrere Faktoren. Dass es das Rauchen allein war, kann ich mir nicht denken. Man weiß es nicht. Das bringt ja auch jetzt nichts mehr, Hauptsache ist doch, dass sie eine ganze Menge geschafft hat und sich wieder auch freuen kann am Leben … Na ja, an guten Tagen fühlt sie sich wohl und an schlechten Tagen ist sie schon auch sehr traurig und findet das Leben dann auch nicht mehr sehr lebenswert. Aber ich erlebe sie nie schlecht gelaunt! Traurig, ja. Aber auch dann nicht schlecht gelaunt. Und lachen kann sie auch noch wie früher. In den letzten Jahren hab ich sie selten gesehen, leider. Erst vor kurzem wieder - wie lang ist das her, vier Wochen etwa? Da war ich da, weil ich Barbara besucht habe in der Praxis, die ja vorn im selben Haus ist. Und da haben wir auch Dorothea unten besucht in ihrer Wohnung mit Gartenblick. Ich hab mich total gefreut und sie auch. Es war eine schöne Begegnung und ich habe mir vorgenommen, sie jetzt mal öfter zu besuchen.

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