Parteienexperte über die Neuwahlen in Hessen: "Koch hat noch nicht gewonnen"

Thorsten Schäfer-Gümbel muss jetzt Eigenständigkeit zeigen und sich als Versöhner. Ein Comeback von Andrea Ypsilanti ist dagegen eher unwahrscheinlich, meint der Politologe Wolfgang Schroeder

Der neue Kandidat der Hessen-SPD, Thorsten Schäfer-Gümpel, und seine Vorgängerin, Andrea Ypsilanti. Bild: dpa

taz: Herr Schroeder, verstehen Sie noch, was in der hessischen SPD passiert?

Wolfgang Schroeder, 48, ist Professor für Politikwissenschaften in Kassel. In den 90er-Jahren war er Referent beim Vorstand der IG Metall und dort Ressortleiter für europäische Tarifkoordination. Seit 2006 ist er in Kassel tätig, Schwerpunkt: politisches System der BRD und Innovation. Kürzlich erschien im VS-Verlag der von ihm herausgegebene Band "Parteien und Parteiensystem in Hessen. Vom Vier- zum Fünfparteiensystem".

Wolfgang Schroeder: Von außen gesehen herrscht dort die Logik des Chaos. Aber es gibt rationale Gründe. Die SPD in Hessen war schon immer tief in einen rechten und linken Flügel gespalten. Die Gruppe um Andrea Ypsilanti hat "the winner takes it all" gespielt - und sich überschätzt. Sie hat quasi nach dem angelsächsische Modell gehandelt. Die deutsche Politik funktioniert aber eher konsensorientiert. Oder man wiederholt die Basta-Politik von Gerhard Schröder; dann braucht man aber auch dessen machtpolitische Fähigkeiten.

Was war Ypsilantis Fehler?

Es gab drei entscheidende Fehler. Sie hat am 2. Dezember 2006 mit hauchdünner Mehrheit Jürgen Walter geschlagen. Danach hätte sie die SPD-Rechte integrieren müssen; das hat sie versäumt. Der zweite Fehler bestand darin, dass sie direkt auf die Linke losstürmte, statt öffentlich auszuloten, wie weit sie mit CDU und FDP als Koalitionspartner kommen könnte. Damit ist sie schnurstracks in eine Glaubwürdigkeitsfalle gelaufen. Der dritte Fehler war ihr Kabinett, in dem sie Hermann Scheer und nicht Jürgen Walter zum Wirtschaftsminister machte. Sie hat gewissermaßen dreimal ähnliche kardinale Fehler gemacht.

Jürgen Walter hat den Koalitionsvertrag ausgehandelt, im Parteivorstand dafür-, auf dem Parteitag dagegengestimmt. Bei diesem Zickzackkurs mussten doch auch SPD-Rechte den Überblick verlieren, oder?

Es geht nicht nur um Walter als Person. Er stand für einen Teil der SPD-Wähler und der Partei. Ypsilanti hätte ihn stark machen müssen, um ihr eigenes Projekt zu stabilisieren.

Sie meinen: Walter war das Opfer, Ypsilanti Täterin?

Ich würde eher von Verantwortung reden. Und die liegt vor allem bei Ypsilanti - schlicht, weil sie die SPD führt. Eine Parteichefin, die nur eine hauchdünne Mehrheit bei ihrem Start als Kandidatin besitzt, muss den anderen Flügel inhaltlich, personell und symbolisch einbinden - selbst wenn der sich widersprüchlich und störrisch aufführt. Die zweite Verantwortung liegt in der Tat bei Walter, weil er, unberechenbar, launisch und ambivalent, das Chaos mitverursacht hat. Walter hat ja nicht zuletzt dazu beitragen, dass sein eigenes Lager, die Aufwärts-Gruppe, jetzt in Trümmern liegt.

Warum haben die Abweichler ihr Gewissen nicht schon bei den geheimen Probeabstimmung im September entdeckt?

Da gab es den Koalitionsvertrag noch nicht, auch die Ministerposten waren noch nicht vergeben. Das war letztlich das ausschlaggebende Ereignis.

Nicht die Linkspartei?

Ich glaube, nein. Entscheidend war, dass diese Gruppe lange den Eindruck hatte: Walter wird Wirtschaftsminister, bei den Flughäfen Kassel-Calden und Frankfurt wird es Öffnungsklauseln geben. Nach der Nominierung von Scheer hatten Walter & Co das Gefühl, nur noch Manövriermasse zu sein, deren Interessen nicht mehr berücksichtigt wird.

Immerhin hatte es Ypsilanti im Wahlkampf ja geschafft, acht Prozent mehr für die SPD einzufahren, weil sie für einen Politikwechsel einstand.

Ja, sie hat 2007 beeindruckende Erfolge bei den Jungen, vor allem bei den Frauen unter 30 erzielt - in dieser Gruppe hat Ypsilanti 22 Prozent mehr für die SPD geholt. Aber es geht in der Politik immer um das Machbare. Ypsilanti musste, unter Stress, ein anspruchsvolles Dissens-Management betreiben: Das ist ihr aus dem Ruder gelaufen. Und es gab wohl niemanden, auf den sie hören wollte und der ihr gesagt hat, wie schmal der Grat ist. Als Machtpolitikerin hat sie versagt.

Komisch, da ihr ja Machtgeilheit vorgeworfen wird?!

Richtig ist, dass Ypsilanti es als Frau schwerer hatte, es gab unfaire Kampagnen der Boulevardpresse. Aber auch das muss eine Spitzenpolitikerin aushalten, ohne sich abzuschotten und einen Tunnelblick einzunehmen.

Hat Ypsilanti in der hessischen SPD noch eine Zukunft?

Das scheint zurzeit eher unwahrscheinlich. Das Beste wäre gewesen, wenn sie letzte Woche erklärt hätte, dass sie die politische Verantwortung übernimmt und alle Ämter abgibt. Dann wäre die vage Aussicht geblieben, irgendwann wiederzukommen. Denn Potenzial hat sie schon.

Und jetzt?

Wenn die SPD die Wahl verliert, wofür vieles spricht, wird sich die hessische SPD-Spitze nicht mit der Deutung zufrieden geben können, dass es eben vier Verräter gab. Man wird dann die Gesamtkonstellation würdigen, und dazu gehört, dass die Rede vom Politikwechsel substanzlos ist, wenn man so knappe Mehrheitsverhältnisse hat. Unter diesen Bedingungen war es ein Kardinalfehler, zu polarisieren und den anderen Flügel über den Tisch zu ziehen. Und wer den Zeitpunkt des Rückzugs verpasst, wird irgendwann rausgetragen.

Ist Thorsten Schäfer-Gümpel mehr als eine Notlösung?

Es kann sich herausstellen, dass er gar keine schlechte Wahl ist. Er ist jung, energiegeladen und optimistisch - und das muss er sein, wenn er nicht untergehen will.

Welche Botschaft wird er im Wahlkampf betonen?

Ich glaube: Optimismus, trotz allem. Er muss den Blick auf die drohende wirtschaftliche Rezession richten. Statt von Hessen aus die Welt zu retten, sollte erst einmal Hessen gerettet werden. Zurzeit geht es weniger um Gerechtigkeitsfragen als um Sicherheit: also die Automobilstandorte in Rüsselsheim und Baunatal fördern, prekäre Beschäftigung bekämpfen und das Desaster an den hessischen Schulen angehen. Und er muss jenseits von Ypsilanti Eigenständigkeit zeigen.

Wie schafft er das?

Zum Beispiel, indem er sich von Hermann Scheer löst - was ja offenbar bereits passiert ist.

Was war schlecht an Scheer?

Bei aller Sympathie, die man für ihn haben kann - für die SPD in Hessen war er ein weiterer Sargnagel. Er hat viele fasziniert, für ebenso viele war er ein rotes Tuch. Die SPD in Hessen braucht jetzt Leute, die versöhnen können, denn die Wähler mögen keine zerstrittenen Parteien. Nicht, weil sie autoritätshörig sind. Sondern weil sie zu Recht vermuten, dass nur Parteien, die an einem Strang ziehen, politisch etwas durchsetzen können.

Werden Grüne und Linkspartei mit in den Abwärtsstrudel der SPD gezogen?

Eher nein. Al-Wazir hat souverän gewirkt und versucht, in dem Chaos Rationalität zu organisieren. Die Grünen werden vom SPD-Niedergang profitieren. Auch die Linkspartei hat nach anfänglicher Kakophonie in dem Prozess vergleichsweise professionell und geschlossen agiert.

Sie schneidet in aktuellen Umfragen aber schlecht ab.

Das scheint mir nur eine Momentaufnahme zu sein. Die Wahlbeteiligung wird im Januar niedrig ausfallen. Das wird der Linkspartei nutzen. Das Fünfparteiensystem wird sich daher in Hessen eher stabilisieren.

Roland Koch kann sich jetzt als Landesvater gerieren und kann die Wahl, salopp gesagt, nach Hause schaukeln, oder?

Nein, so eindeutig ist das nicht. Erstens haben die Wähler weder seine problematische Schulpolitik noch seine ausländerfeindlichen Kampagnen vergessen. Außerdem ist Koch jemand, der permanent etwas verändern, reformieren will. Ich glaube nicht, dass er etwas ruhig nach Hause schaukeln kann: er hat etwas Hyperaktives. Insofern steht er immer in der Gefahr, Fehler zu machen, die nur er machen kann.

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