die wahrheit: Die Route zu den Innereien Lateinamerikas

Im Intro dieser geografisch grundierten Geschichte wäre der Mann zu erwähnen, der von einem Tauben gehört hatte, dass ein Stummer erzählt habe, ein Blinder habe gesehen...

Im Intro dieser geografisch grundierten Geschichte wäre der Mann zu erwähnen, der von einem Tauben gehört hatte, dass ein Stummer erzählt habe, ein Blinder habe gesehen, wie ein Gelähmter auf dem Seil tanzte. Oder jener Frau könnte das Intro vorbehalten sein, die ein diamantenes Ohrgeschmeide im Meer verloren hatte. Zehn Jahre später an genau dem gleichen Tag, einem Mittwoch wahrscheinlich, aß sie von einem großen Fisch und stellte fest, dass nichts Diamantenes darin war. Beide Geschichten bringen auf den Punkt, was ich an Zufällen und Gewissheiten so liebe.

Kürzlich, an einem Mittwoch wahrscheinlich, begegnete ich Herrn Becker. Manche seiner journalistischen Ergüsse verfasst er, wie jemand mal meinte, mit einer so selbstquälerischen Hingabe, als betrachte er sie mehr wie etwas Kostbares für die Ewigkeit denn wie schnöden Broterwerb. Weder sei er dafür zu beneiden noch zu bedauern. So seh ich das auch, bis man über die Kategorien der Dringlichkeit debattieren möchte. Doch dies nur am Rande, wo auch ein luzides Fachbuch bereitliegt, Lawrence Blocks "Telling Lies for Fun and Profit".

Mir war das Gerücht zu Ohren gekommen, Becker werde bald Europa den Rücken kehren und sein Domizil in Buenos Aires aufschlagen, wo eine Freundin von ihm arbeitet. Deren Wohnung bot freien Platz nach dem Scheitern ihrer, wie es hieß, asymmetrischen Beziehung zu einem ortsansässigen Galan. Obendrein habe sie Becker einen wenn auch kärglich entlohnten Job vermittelt.

Im Anschluss an das Begrüßungsgeplänkel erzählte Becker von seiner Absicht, die Folgen der Kneterei an der Rezessionsspirale selbstbestimmt vorwegzunehmen, gleichsam ein Start-up auf einem fernen Kontinent zu betreiben. "Aha, soso", murmelte ich und erinnerte mich unwillkürlich an ein magisches Dreieck in zweidimensionalen Sphären, an ein Link-Angebot auf der Internetseite der Frankfurter Allgemeinen: "Faz.net Services: Partnersuche, Zinsvergleiche, Routenplaner". Ein Dreisatz an Verheißungen für die ideale Erfüllung klassischer oder natürlicher Bedürfnisse.

Becker indessen brillierte mit dem Ergebnis seiner Vorstudien, während eisige Böen über die Gesichtshaut fegten. Das Zentrum des lateinamerikanischen Menschen, wusste Becker, sei anders als das unsere nicht der wankelmütige Kopf, sondern die visceras und die entrañas seien es, die Weichteile und das Eingeweide. Das bedeute oder meine: das Intime, das Gekröse, Essenz, Affekt, Charakter, Seele, Mitgefühl, Herzinnerstes. Kurz: das Sonnengeflecht, der vegetative Kern, im Gegensatz zur Rationalität nördlicher Breitengrade.

"Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähl ihm von deinen Plänen", hatte jemand in dem argentinischen Film neulich im Kino gesagt. Eine Frau drei Reihen weiter vorne meinte blitzartig: "Na, dann lacht ja wenigstens einer." Gut gegeben, dachte ich und hatte ihr beim Hinausgehen sparsam zugelächelt. Mein Bauch sagt meistens das Falsche.

Was Becker dazu sagte, kommt womöglich bei nächster Gelegenheit zur Sprache, per Internet aus Buenos Aires oder am Neujahrstag hier in der Nähe des Hauptbahnhofs, bei frostigen Temperaturen.

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kari

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