Nachdenken über Wollust: Schuld hat schon wieder die Mutter

Nur weil schon im Vorabendprogramm hemmungslos gevögelt wird, ist Wollust noch lange nicht frei. Der britische Philosoph Simon Blackburn hat sie geist- und anekdotenreich untersucht.

Selbst im pseudoschmutzigen Liebesleben der US-Serie "Sex and the City" wird Wollust auf dem Altar des "Mr. Right"-Kults geopfert. : dpa

Sie ist das Unvernünftige. Die Wollust. Sie ist das Animalische, Zerstörerische, mit Blindheit geschlagene. Sie ist der billige Kick, das Entselbstende, über das es eigentlich nicht lohnt, lang nachzugrübeln. Denn sie fragt ja auch nicht, ob sie willkommen ist, die Wollust. Plötzlich kommt sie über uns, ist da, schon fort - und in den zappligen Erinnerungssplittern immer auch ein wenig peinlich.

Umso schöner, dass es nun ein Büchlein gibt, das sich der Wollust widmet. Der britische Philosoph Simon Blackburn wischt beherzt alle Peinlichkeiten beiseite und nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Rundumbesichtigung der "schönsten Todsünde". Denn die Wollust habe eine schlechte Presse, stellt er in seiner Einleitung fest. "Sie ist das Haar in der Suppe, das schwarze Schaf der Familie, das ungezogene Schmuddelkind im Kreis rechtschaffener Anverwandter wie Liebe und Freundschaft." Die Liebe gelte als eine Art honorige Tante, sie erhalte "den Applaus der ganzen Welt". Denn, so Blackburn, "Liebe dauert, Wollust verliert schnell ihren Reiz."

Als sei das Unstete ein Makel der Wollust! Ist es nicht, gerade im Gegenteil, das irre Gute an ihr? Schön, dass sich mal jemand traut, diese Macht eingehend zu betrachten und zu hinterfragen.

Nun denn, warum scheut sich der Mensch, zur Wollust zu stehen? Da wäre zum einen der Aspekt der Lächerlichkeit. Es nützt nichts, die zügellose Lust wortreich zu umkränzen, letztlich scheint ihre grelle Geilheit durch jede Tünche. "Näher an Ekstase", schreibt Blackburn, "kommen die wenigsten von uns heran." Zum anderen ist da das Christentum, das Ekstasen ganz anderer Art im Angebot hat. "Der Orgasmus", so der Autor, "unterbindet das Denken. Und nicht nur das, er verdrängt auch das Gebet" - dies sei einer der schwerwiegendsten Gründe, weshalb er Mutter Kirche ein solcher Dorn im Auge sei.

Tatsächlich ist die Wollust im Katholizismus eine der Todsünden - neben Hochmut, Geiz, Neid, Zorn, Völlerei und Trägheit. In mittelalterlichen Hexenprozessen gehörte sie zu den immer wieder vorgebrachten Anklagepunkten. Damals wie heute wusste und weiß ein jeder um die Bigotterie sowohl des Vorwurfs als auch der Kläger - aber so eine jahrhundertealte Prägung fällt ja nicht einfach unter den Tisch, nur weil heute schon im Vorabendprogramm hemmungslos gevögelt wird.

Zur Veranschaulichung erzählt Simon Blackburn sehr witzig von der Bekehrung des heiligen Augustinus, von dessen "panischer Angst" vor dem Zügellosen. Der -verheiratete - Kirchengelehrte nämlich entsagte nach Lektüre des Paulusschen Römerbriefs dem Beischlaf wie überhaupt allem Lüsternen. Schuld daran dürfte laut Blackburn Augustinus Mutter gewesen sein. Die gute Frau nämlich, eine Nörglerin von Format, soll ihren Sohn gedrängt haben, Gattin und Sohn zu verstoßen, um in Mailand eine viel versprechendere kirchliche Laufbahn einzuschlagen. Er tat, wie ihm geheißen und prägte fortan die Moral des Abendlandes, indem er streng zwischen der - höheren - Welt des Seins und der - selbstredend niederen - Welt des Werdens, also der Sinne, unterschied.

"Nicht besonders nett" nennt Blackburn Augustinus Familienmanagement. "Eine ehrgeizige Mutter zu haben ist natürlich eine schwere Hypothek." Und so kam es, dass der frisch gebackene Moralist Augustinus derart von Gewissenbissen gezwickt wurde, dass er gar nicht anders konnte, als seine Schuldgefühle auf den Geschlechtsakt und die mit ihm verbundenen gottlosen Begierden zu projizieren. Unter den Folgen leiden wir noch heute, 1.600 Jahre später.

Das Beispiel Augustinus sei nur als eine von Blackburns Annäherungen an das Thema Wollust genannt. Letztlich, so der in Cambridge lehrende Philosoph, gehe es darum, zu begreifen, was die Wollust wirklich ist. Eine Gnade der Natur. Nur dann könnte sie ein jeder und eine jede für sich reklamieren und dabei lernen, dass Wollust am besten gedeiht, "sofern sie unbelastet ist von schlechter Philosophie und Ideologie (…) von Verdächtigungen, die sie daran hindern, sich frei zu entfalten." Nun denn! Freuen wir uns einfach, wenn sie mal wieder vorbei schaut, die Wollust. Sich vorher anzumelden ist ja bekanntlich nicht ihre Art.

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