Flucht aus dem Irak: "Ich weiß jetzt, was Frieden ist"

Hamid Najm und seine Familie sind die ersten Iraker, die auf Initiative der Europäischen Union in Berlin aufgenommen werden. Ein Besuch in Marienfelde

Die Botschaft war klar: "Verlasse dein Haus sofort, sonst werden wir dich und deine Familie umbringen", las Hamid Najm in dem Brief, der im Oktober 2006 vor seiner Haustür lag. In wenigen Stunden packten er, seine Frau und die vier Kinder zusammen, was sie in drei großen Koffern tragen konnten. Ihr Haus und Gut übernahmen andere. Die Najms ließen Bagdad hinter sich und flohen nach Damaskus.

Sie waren nicht die Einzigen. Aus Angst um ihr Leben flohen gut zwei Millionen Iraker nach Damaskus - die Einwohnerzahl der syrischen Hauptstadt stieg auf das Doppelte an. Das Land Berlin wird nun 130 der Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde aufnehmen. Als Erste kam vor einer Woche Familie Najm. Am Montag kamen die Nächsten, eine Irakerin mit ihren vier Kindern.

In Damaskus jobbte Najm als Elektriker und konnte sich eine Wohnung außerhalb der Flüchtlingscamps leisten. Riskant war das, denn in seinen Pass hatte die syrische Grenzkontrolle in Rot "Aufenthaltsgenehmigung ohne Arbeitserlaubnis" gestempelt. Lebensgefährlich die Lage für seine 14-jährige Tochter Noor: Sie leidet an einem Herzfehler, den in Syrien niemand heilen konnte. Seiner Tochter helfen wollte Najm, egal wo.

Vor knapp vier Wochen erfuhr er, dass Deutschland seine Familie aufnehmen werde. Sein Gesicht leuchtet, wenn er davon erzählt. "Ich habe mich unglaublich gefreut." Tief atmet er ein, und man spürt die Erleichterung, die diese Nachricht für ihn bedeutet haben muss.

Schwer vorstellbar ist, was die Flüchtlinge alles erlebt haben. Drei Golfkriege in den letzten 30 Jahren, Saddam Husseins Feldzug gegen das eigene Volk und zuletzt der Kampf verschiedener Religionsgruppen untereinander, der die sunnitische Familie aus ihrem Haus vertrieb. Jetzt ruht sich Najm auf einem Stuhl in seiner Wohnung im Lager Marienfelde aus und versucht auf Arabisch, Worte zu finden.

Ahmad al-Hakim vom irakischen Kulturverein sitzt ihm gegenüber und übersetzt, wenn die Presse da ist oder der Handwerker reinkommt: "Die Lampenfassung ist kaputt, können Sie ihm das sagen?" Al-Hakim dolmetscht, und Najm nickt. Ein paar Worte kann er bereits - noch in Damaskus hat er angefangen, Vokabeln zu lernen. Bald sollen auch der Deutsch- und Integrationskurs für die Familie beginnen. Drei Jahre lang darf seine Familie nun hier leben - und auch arbeiten.

"Das ist alles nur provisorisch", sagt Najm und zeigt auf die kahlen Wände. Er war schon beim Jobcenter und hofft, schnell Arbeit und eine eigene Mietwohnung zu finden. Ein paar Hosen und Hemden liegen im Schrank, einer ihrer drei Koffer steht im Schlafzimmer und auch ihr Computer, der die Familie auf ihrer Flucht begleitet hat. Erst mal fehle es ihnen an nichts. "Man hat alles Mögliche für uns getan." Seine Tochter wurde untersucht und kann erst einmal bei der Familie bleiben. Die Ärzte hier könnten ihr hoffentlich helfen - "Inschallah", sagt Najm.

Er sei in Berlin nun endlich zur Ruhe gekommen. Die Angst um seine Familie beherrscht nicht mehr jeden Gedanken. "Meine Familie weiß jetzt, was Frieden ist." Er selbst hat Frieden ein einziges Mal erlebt, in den 80ern, als er in Frankreich zum Ingenieur ausgebildet wurde.

"Die Kinder sollen in Deutschland lernen", sagt Najm. Seine Kinder sollen dort zur Schule gehen, wo die Familie ihre eigene Wohnung beziehen wird. Der 17-jährige Durid solle einmal Ingenieur werden, welche Spezialität könne er sich aussuchen. Die elfjährige Hajer wolle Ärztin werden. "Sie ist sehr fleißig und war immer die Beste ihrer Klasse", erzählt Najm stolz. Noor möchte Lehrerin werden.

Die kleinste, Sara? Najm lacht. Die Sechsjährige tobt gerade auf dem Spielplatz des Flüchtlingslagers mit ihrer neuen Freundin Irina. Außer den Irakern leben dort auch etwa 60 Spätaussiedler. Sara ruft Irina auf Arabisch zu: "Komm! Schnell!" und winkt das Mädchen zu sich. Sie will Irina etwas zeigen: Sara dreht sich immer schneller um sich selbst und lässt dabei ein Jojo durch die Luft peitschen. Die Rufe ihrer Schwestern und Mutter scheint sie dabei nicht zu hören. "Ach Sara. Wer weiß." Najm lächelt.

Befürchtet er, dass seine Kinder ihre irakischen Wurzeln verlieren könnten? "Ich habe keine Angst", sagt Najm. "Die arabische Sprache werden sie nicht verlieren - die wird in der Familie gesprochen." Natürlich sei es komisch, nicht mehr den Mullah zum Gebet rufen zu hören, aber in Berlin gebe es ja immerhin 200.000 Muslime - das habe er in einer Broschüre gelesen.

Ihren ersten deutschen Nachbarn sind die Najms schon begegnet, im Supermarkt. Da standen die Najms vor den Regalen und wussten nicht, was sie kaufen sollten. Ein Mann sei auf sie zugekommen und habe gefragt, ob sie die neu angekommenen Iraker seien. Freundlich habe der Marienfelder ihnen dann erklärt, wie man den Preis von Lebensmitteln vergleicht. "Da muss man nicht nur auf den unterschiedlichen Preis achten, sondern auch auf das unterschiedliche Gewicht!", wiederholt Najm und macht vor, wie der hilfsbereite Mann eine Packung nach der anderen aus dem Regal geholt hatte. Najm schmunzelt. "Es gibt hier im Supermarkt viel mehr, als man braucht."

Am meisten überraschte Najm in Berlin "das türkische Viertel", wie er Neukölln nennt. Er habe nicht gedacht, dass es eine so große ausländische Bevölkerungsgruppe in Deutschland gebe. Die Familie besuchte Neukölln auf Stadtrundfahrt mit dem irakischen Kulturverein. Ehrenamtlich kümmern sich dessen Mitglieder um die Iraker und helfen als Dolmetscher und Kulturvermittler.

Najms fünf Brüder und vier Schwestern leben noch in Bagdad. "Jetzt ist erst einmal Trennung." Kontakt haben die Geschwister nur per Telefon. In den Irak zurückzukehren kann sich Najm nicht vorstellen. Die Sicherheitslage wird sich kaum bessern, fürchtet er, auch in drei Jahren nicht. Wahrscheinlich wird er eine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Doch darüber möchte er jetzt noch nicht nachdenken.

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