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Ein standardisiertes Elend in Weiß

LEBENSMITTEL Andrea Fink-Keßler verfolgt die Karriere der „Milch“ vom Mythos zur Massenware und bietet Lösungsvorschläge

Im Herbst waren sie mal wieder auf der Straße, europaweit, auch in Deutschland. Doch längst machen die Milchbauern keine Schlagzeilen mehr, wenn sie streiken oder demonstrieren. Seit Jahren weisen sie in Berlin und Brüssel darauf hin, dass die Molkereien ihnen zu wenig für ihre Milch bezahlen. Doch ändert sich nichts daran. Längst haben sich die Verbraucher daran gewöhnt, dass immer weniger Milchbauern immer mehr Tiere halten, um auf dem Weltmarkt mitzuhalten. Ihr Kampf ist genauso langweilig geworden, wie ihre Milch aus dem Pappkarton meistens schmeckt. Eine weiße, genormte Flüssigkeit mit standardisiertem Fettgehalt, immer verfügbar.

Im Europa gab es um 1700 herum eine Fülle von Milch im Mai, wenn die Tiere endlich auf fette grüne Weiden durften. Im Herbst nahm die Milchmenge ab, im Winter versiegte sie ganz. Erst wenn im Dezember, Januar die ersten Jungtiere geboren wurden, gaben die Kühe wieder Milch, aber die mussten sich die Menschen mit den Kälbern teilen. Doch ist die Milch von Tieren für Menschen überhaupt gesund? Seit der Antike wird diese Frage diskutiert und in wechselnden Moden unterschiedlich beantwortet. 1817 etwa empfahl der Arzt Anton Zwierlein, die Ziege sei die beste Amme, der Säugling solle ihre Milch direkt aus dem Euter säugen. Die Agrarautorin Andrea Fink-Keßler hat solche Geschichten über die Milch gesammelt und unterhaltsam aufgeschrieben.

Ihr Buch „Milch. Vom Mythos zur Massenware“ ist lesenswert, weil es eine Fülle interessanter Details zum Stoff bietet, aber nicht der amüsant-harmlosen Form der Kulturgeschichte verhaftet bleibt. Sondern ganz nebenbei am Beispiel der Milch die Industrialisierung und Globalisierung unserer Landwirtschaft erzählt. In Deutschland molken 2011 nur 89.000 Betriebe Milch, 1999 waren es 152.000 – und 1952 noch 1,54 Millionen. Längst ist die Milch in den Fokus der Biotechnologie gerückt, Eiweißstoffe können gezielt mit Enzymen aufgespalten und anderen Lebensmitteln als Zusatzstoffe beigegeben werden, Milchsäurebakterien werden „designt“.

Lebendiges Naturprodukt

Die Mitautorin des „Kritischen Agrarberichts“ macht keinen Hehl daraus, wem ihre Sympathie gehört: den Bauern, die versuchen, mit ihren Tieren nachhaltig zu wirtschaften und regionale Wirtschaftskreisläufe aufbauen, ob mit Biosiegel oder ohne, und die Milch als lebendiges Naturprodukt schätzen. Nostalgisch ist sie nicht: Bevor Maschinen und Technik Einzug auf den Höfen hielten, war die Arbeit für die Menschen unmenschlich hart, die Milch konnte mit gefährlichen Bakterien befallen sein. Und wenn das Futter knapp wurde, gingen zuerst die Milchkühe leer aus, weil Arbeitstiere und Mensch wichtiger waren.

Eine gute alte Zeit auf dem Lande gibt es also nicht in diesem Buch (was erfreulich ist), dafür Lösungsvorschläge für die Misere unserer Tage: zu viel Verbrauch von Boden und Wasser bei der Milcherzeugung, gequälte Tiere, deren Lebenserwartung immer weiter sinkt, und ein Hofsterben auf dem Lande. „Es dürfte von allem etwas weniger sein“, schlägt Fink-Keßler vor, „weniger Milch pro Tier, weniger Tiere in der Herde, weniger Neuinvestitionen, weniger Fremdressourcen an Energie und Futtermittel, weniger Arbeitszeit im Stall, weniger Schulden und Sorgen, weniger lange Kühlregale, weniger Verwirrung und Konsumstress – dafür aber mehr Raum und Zeit für eigene Verantwortung und Achtsamkeit“. Auch von Bauernprotesten gelangweilte Verbraucher können zum Wandel beitragen: In den meisten Supermärkten gibt es inzwischen regionale, fair vermarktete Milch.

HEIKE HOLDINGHAUSEN

Andrea Fink-Keßler: „Milch. Vom Mythos zur Massenware“.

Oekom 2013, 282 Seiten, 19,95 Euro

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