piwik no script img

Archiv-Artikel

Am Ende des Traums

SCHULDEN Roma, die sich prostituieren, klauen oder auf den Arbeiterstrich gehen, tun das oft, weil der finanzielle Druck groß ist. In ihrer Heimat sitzt jemand, den sie noch bezahlen müssen. Denn er hat sie nach Westeuropa gebracht

Ende der Heimkehrerprämie

■ Die Politik: Auch unter dem Sozialisten François Hollande hat sich in Frankreich für Roma, die am Rande der Gesellschaft leben, nur wenig geändert. Der Innenminister Manuel Valls vom rechten Flügel der Sozialistischen Partei lässt nach Rumänien und Bulgarien abschieben. Weiter werden behelfsmäßige Romalager von der Polizei geräumt und abgerissen.

■ Die Zahlung: Roma, die „freiwillig“ in ihr Herkunftsland zurückkehren, erhalten keine Heimkehrprämie von 300 Euro oder 100 pro Kind mehr. „Diese jetzt gestrichene Beihilfe, die aus humanitären Gründen zu einer Heimkehr gewährt wurde, machte Frankreich besonders attraktiv“, so Valls.

■ Die Jobs: Die Zahl der Jobs und Berufe, die für die Roma zugänglich sind, wurde zwar, wie von Hollande versprochen, im Oktober von 150 auf fast 300 verdoppelt. Arbeitskräfte aus den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien brauchen bis Ende 2013 aber weiterhin eine Arbeitsbewilligung der Präfektur. Auch die regierende Linke war wegen der gespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht bereit, diese restriktiven Übergangsbestimmungen des EU-Beitritts vorzeitig aufzuheben, wie es Hilfsorganisationen zur besseren Integration der Roma verlangt hatten. Auch in Deutschland brauchen EU-Bürgerinnen aus Bulgarien oder Rumänien eine Arbeitserlaubnis.

AUS FRÉJUS, DUISBURG UND KATUNITSA ANNIKA JOERES, DAVID SCHRAVEN UND STANIMIR VAGLENOV

Wenn Luludja ihr Rosensträußchen über die Tische der südfranzösischen Brasserie hält, Tisch für Tisch, Abend für Abend, dann tut sie das für ihre Familie. Kassieren aber wird vor allem ein Mann in ihrer Heimat, Hunderte Kilometer entfernt. Luludja bemüht sich um ein schüchternes Lächeln. Ihre Lippen hat sie knallrot geschminkt.

An diesem Abend winken die meisten Gäste ab, ohne die Romni mit dem glitzernden grünen Lidschatten anzugucken. Erst nach zwei Stunden und einigen weiteren Cafés und Restaurants verkauft Luludja eine Rose für 3 Euro und ihren Körper für 35 Euro an einen jungen Mann mit Hornbrille.

„Das war ein ganz durchschnittlicher Abend“, erzählt sie am nächsten Morgen. Sie geht in Fréjus an der Mittelmeerküste Frankreichs anschaffen. Der Ferienort ist nicht weit von Saint-Tropez entfernt, wo Reiche mit ihren Yachten Urlaub machen. Wenn im Sommer Touristen zu Hunderttausenden in den Badeort kommen, prostituieren sich Dutzende Roma aus Bulgarien auf den Einfallstraßen der Stadt.

Luludja kam vor vier Jahren aus Zentralbulgarien nach Westeuropa. Sie hatte im Fernsehen Bilder von der Côte-d’Azur gesehen und sich dort ein besseres Leben ausgemalt.

Die Blumen brächten vielleicht 5, 6 oder 8 Euro am Abend ein, erzählt sie. „Davon kann ich meine Schulden für die Hinreise nicht bezahlen.“ Die Sträußchen seien lediglich der Köder für die Freier.

Luludja sagt, sie fände nichts dabei, ihren Körper zu verkaufen. Ihren vollen Namen will sie nicht nennen. „Mit meiner Arbeit können ich und meine Familie überleben“, sagt sie. Das ist für sie die Hauptsache. Am Morgen nach ihrer Blumentour durch die Kneipen der Altstadt steht sie mit geschürzten Lippen und kerzengeradem Rücken auf einem schlammigen Wiesenstück in Fréjus, auf dem sie und ihr Mann Daniel in einem Wohnwagen inmitten von modernden Müllbergen und Schrott leben.

Ihr Mund wird schmal, ihr Gesicht verschließt sich, wenn man sie fragt, wie genau sie nach Frankreich gekommen ist. Ihr Mann Daniel mit den sorgfältig nach hinten gegelten Haaren und den polierten Lederschuhen redet schließlich, stockend. Er sagt, ein Mann hat sich in ihrem Slum von Plowdiw als Chauffeur angeboten. Bulgarien ist in der EU. Man kann von dort in jedes EU-Land ziehen, man muss die Reise nur bezahlen können. Oder man verschuldet sich bei einem Fahrer.

Plowdiw liegt etwa hundert Kilometer von der bulgarischen Hauptstadt Sofia entfernt. Der Slum befindet sich im Hoheitsgebiet eines Clanführers, dessen Namen Luludjas Mann nicht nennen will. Aber es ist bekannt, dass dort König Kiro herrscht.

König Kiro ist eine schillernde Figur, und er lebt dort, wo die Reise vieler Roma in den Westen beginnt. Er ist einer jener Männer, die am Elend Tausender Roma verdienen, die ins westliche Europa ziehen. Der Mann, den sie König Kiro nennen, hat ein Netzwerk solcher Fahrer aufgebaut, die manchmal auch Schlepper sind. In italienischen Polizeiakten ist es dokumentiert.

König Kiro heißt mit bürgerlichem Namen Kiril Rashkov. Er kassiert mit, wenn Roma-Kinder in Italien auf Diebestour gehen, wenn in Frankreich Häuser aufgebrochen werden oder sich Frauen im Ruhrgebiet prostituieren. Der Mann mit der Halbglatze stammt aus der Nähe von Plowdiw, wo Luludja herkommt. Er hat ein volles Gesicht, kleine Knopfaugen, darunter schwere Tränensäcken.

König Kiro ist einer der bekanntesten Bosse, aber bei weitem nicht der einzige. „Die westeuropäischen Ermittler unterschätzen den hohen Organisationsgrad der Roma-Familien“, sagt Tihomir Bezlov vom „Zentrum für Demokratiestudien“ in Sofia. Der Zusammenhang zwischen den einzeln gemeldeten Diebstählen in Großstädten wie Berlin und Wien werde ignoriert.

Der Kriminologe analysiert auch für die Vereinten Nationen die Struktur organisierter Kriminalität in Europa und befindet: „Nur selten ist ein kriminelles Handwerk chaotisch.“ Die meisten Diebstähle und Prostituierten von Roma in Europa seien Teil eines straff organisierten Systems mit einem Boss an der Spitze. „Die deutschen Kriminologen sind blauäugig“, sagt der Mann mit dem strengem Blick und der großen Fliegerbrille.

Kiril Rashkov begann seine Karriere im sozialistischen Bulgarien. Er kontrollierte den Gold- und Silberschmuggel in die Türkei. Rashkov wurde lange Zeit von Politikern geschützt. Er profitierte von der Wende.

1984 schon war er wegen Korruption und illegaler Geldgeschäfte verurteilt worden, von der neuen Regierung 1989 wurde er begnadigt und konnte seine Geschäfte ausbauen. Er stieg um auf Alkoholschmuggel und Schwarzbrennerei, auf Menschenhandel und Zinsgeschäfte. Seine frühe kriminelle Karriere ist in Bulgarien öffentlich bekannt und in vielen Medien beschrieben worden.

Luludja geht anschaffen, Daniel versucht es als Springer auf Baustellen. Alle paar Tage kommt ein Kollege des Chauffeurs vorbei, der sie hergebracht hat, sagt Luludjas Mann. Er kennt auch ihre Brüder, Schwestern, Nichten, Neffen und Tanten. Auch deshalb wollen die Roma ihre Nachnamen nicht nennen.

„Wir verlieren unsere Ehre, wenn unserer Familie in Bulgarien etwas passiert“, sagt Daniel. Sie haben Angst, dass es sich rächt, wenn sie nicht bezahlen. Luludja habe ihre minderjährigen Töchter auf den Strich schicken wollen, um ihre Schulden zu begleichen, erzählt ein Caritas-Mitarbeiter aus Fréjus

Alle Nachbarn kannten den Fahrer, sagt ihr Mann, vielen hatte er schon Geld geliehen. Die Kosten für die Überfahrt in seinem alten Mini-Van, 200 Euro pro Person, sollten sie später bezahlen, wenn sie Geld im Westen verdient hätten. Mit diesen Schulden wuchs der Druck, jede Arbeit anzunehmen. Ob sie jemals Zinsen und Zinseszinsen begleichen können, wissen sie nicht. Immer wieder werde willkürlich etwas draufgeschlagen, sagen sie. Sie haben inzwischen mehr als 1.000 Euro Schulden.

Die Roma, die in Frankreichs Medien derzeit oft zu sehen sind, campieren auf Wiesen zwischen Müll. Sie werden frühmorgens von der Polizei vertrieben – oder von wütenden Anwohnern. Immer wieder sind Roma in den vergangenen Jahren abgeschoben worden, obwohl sie EU-Bürgerinnen sind. Es gibt Bilder von Roma-Lagern, die Franzosen angezündet haben.

Über die Ausbeuter, die von Armut und Hoffnung profitieren, wird weniger berichtet.

Walzenstraße 15, Duisburg-Hochfeld. Auf dem Boden liegen zerschlagene Flaschen, im Hof abgerissene Möbelreste. In den Wohnungen beißt der Uringeruch. Alina und Juri sitzen in ihrer vier mal drei Schritte kleinen Dachgeschosskammer auf einem Bett. Alina hat ihre schwarzen Haare streng zurückgekämmt, eine Goldkette um den Hals. Juri trägt eine dunkle Trainingsjacke.

Zwei Armlängen entfernt steht in einem braunen Eichenschrank eine rosa Glaskatze. Im Nebenraum rechts trinken Juris Brüder mit ihren Familien Tee. Alle sind Roma aus einem Dorf aus der Nähe der ostbulgarischen Stadt Shumen und vor wenigen Monaten nach Duisburg eingewandert. So wie Juri und Alina, die eigentlich beide anders heißen, geht es einigen Roma in Deutschland und in Westeuropa.

Das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung schätzt, dass zwei Millionen Roma in West- und Nordeuropa wohnen. Studien darüber, wie sie in den Westen kommen, wie die meisten von ihnen dort leben, wie viel die Fahrer an ihnen verdienen, gibt es nicht. Roma-Verbände beklagen, dass sie ohne Arbeitsgenehmigungen in die Schwarzarbeit getrieben werden.

Der bulgarische Kriminologe Bezlov geht davon aus, dass „ein nicht unerheblicher Teil“ von ihnen durch ihre Abhängigkeit von Menschen wie Kiril Rashkov kriminell wird: „Viele sind erst Opfer und werden dann zu Tätern.“

Unter der Dachschräge von Juri und Alina leben neun Erwachsene und neun Kinder auf vier Zimmern, zum Klo geht es eine kleine Treppe runter. Fließendes Wasser fällt regelmäßig aus. Alle zusammen müssen 750 Euro im Monat für die Kaltmiete zahlen. An den Wänden blasse Farbe, der Putz bröckelt. Das Haus mit seinen vier Etagen und achtzig Bewohnern ist komplett an Roma vermietet.

Der Besitzer der Walzenstraße 15 ist der türkische Geschäftsmann Arif K. Er ist das letzte Glied in einer Kette von Geldverleihern und Fahrern in Bulgarien und Rumänien, die ihm täglich Menschen vorbeibringen. Er empfängt die Roma, die so in den Westen gelangten. K. hat die Pässe von Alina, von ihrem Mann Juri und anderen Roma in seinem Haus eingesammelt. Sie sind sein Pfand.

Die Pässe gibt es erst zurück, wenn Miete, Schulden und Zinsen bezahlt sind. Wer nicht mehr zahlen kann, fliegt raus. Fenster auf. Kleidung, Koffer, Eichenschrank samt Glaskatze auf die Gasse, hieße das. „Es gibt genügend Roma, die einziehen wollen, wenn sie dürften“, sagt K. Wo sollen sie sonst auch hin?

K. vermietet mehrere Häuser an Roma und hat Strategien entwickelt, wie er an seine Miete kommt: Er hat Alina einen Kindergeldantrag für ihre drei Kinder an das Duisburger Jugendamt gegeben. Auf dem Formular firmiert als Empfänger das Konto von Arif K.. Die Stadt Duisburg wurde über den Vorgang informiert. Äußern will sie sich nicht.

Kiril Rashkov lud regelmäßig Journalisten und Politiker in seine Paläste zum Umtrunk und spielte den erfolgreichen Geschäftsmann. Wenn man dann da war, reichte er Lachshäppchen und Schnaps, die Stimmung war heiter. Rashkov fühlte sich sicher. Er saß auf einem vergoldeten Thron wie aus einem schlechten Märchen. Kritische Fragen beantwortete er nur mit einem breiten Lächeln und erzählte lieber von seinen Erfolgen in der Champignonzucht, im Goldhandel, bei Börsenspekulationen und Immobilien. Gern stilisierte er sich auch als „Vater einer Minderheit“, als einer, der den „armen Roma“ Arbeit verschaffe. Es folgten positive Berichte in bulgarischen Medien.

Sein Kopf zierte da längst die Spitze des Organigramms einer italienische Ermittlungskommission. Kriminalbeamte aus Udine hatten 2006 mehr als 200 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 6 und 14 Jahren festgenommen. Die italienische Polizei fand inzwischen publizierte Dokumente, nach denen Roma ihre Kinder vertraglich beglaubigt der Obhut der Schlepper anvertraut hatten.

In Mini-Vans wurden die Kinder nach Italien geschleppt, von dort aus weiter nach Südfrankreich, ins österreichische Wien, nach Westdeutschland und nach London. Als Gegenleistung bekamen die Eltern rund 10 Prozent der Beute. Die italienische Polizei notierte gebrochene Arme und Beine bei Kindern, die nicht genug geklaut hatten. Am Ende des Verfahrens wurden 41 Roma zu Haftstrafen verurteilt. Weil verwertbarer Zeugenaussagen fehlten, stellte die italienische Polizei die Ermittlungen gegen Kiril Rashkov wieder ein.

Er lebte feudal im Dorf Katunitsa in der Nähe von Plowdiw. In der Straße „Maritza“ erhoben sich dort sechs Betonpaläste weit über die niedrigen Häuser der knapp 2.000 Dörfler. Ein Gebäude für seine Ehefrau „Queen Kostadinka“, ein weiteres für seine Tochter, Prinzessin Sabka, jeweils eins für die Söhne, Prinz Angel, George, und Kiril Rashkov Junior. Die Zimmer waren mit Marmor ausgelegt, große Kristallleuchter hingen über den schweren Möbeln. Zum Sechzigsten schenkten ihm seine Söhne ein Kamel für den Privatzoo direkt nebenan.

Paläste neben Wellblechhütten

Wenn Bosse wie Kiril Rashkov ihren Reichtum ausstellen, werden bulgarische Ermittler misstrauisch. Ein erster Anhaltspunkt. „Für unsere Ermittlungen laufen wir die Siedlungen von Roma ab. Fast neben jedem Slum stehen Prachtbauten der Clanführer“, erzählt der Forscher Bezlov. Man kann die Paläste neben den schlammigen Hütten selbst über Google Earth leicht finden. Laut Bezlovs „Zentrum für Demokratiestudien“ haben sich die Bosse die Dörfer aufgeteilt. König Kiros Einfluss erstreckte sich über mehrere Slums.

Roma leben dort in zusammengezimmerten Verschlägen aus Wellblech oder Pappe. Viele müssen sich von Abfall ernähren. Gesundheitsversorgung vom Staat bekommen sie keine. Für viele heißt die Hoffnung deshalb Westeuropa.

Kiril Rashkov, genannt König Kiro, lud regelmäßig Journalisten und Politiker in seine Paläste ein

Gut zwanzig Autostunden entfernt, mitten im Ruhrgebiet, floriert das Geschäft für die Zuhälter mit den osteuropäischen Frauen. Eine Teestube in Duisburg-Hochfeld, einem Arbeiterstadtteil mit heruntergekommenen Häuserfassaden. Aus den Lautsprechern dringt orientalischer Gesang.

„Ich kann Ihnen eine beliebige Romni aus Bulgarien oder Rumänien für 1.000 bis 2.000 Euro bestellen“, sagt der Mann mit den ausgemergelten Wangen. Die Frauen würden über seine Kontaktleute nach Westeuropa gebracht, um hier zu arbeiten.

„Die Roma“, sagt er, könne er auch in die benachbarten Städte Krefeld und Essen „liefern“, später würden sie nach Holland oder Belgien weitergereicht. „Ein sauberes Geschäft“ nennt er das. „Willst du auch eine Frau kaufen?“, fragt er und schüttet mehr Zucker in den Tee. „Die Frau kommt auch mit nach Hause für ein paar Tage, kein Problem.“

Für 600 Euro könne der Reporter mit der Frau über das Wochenende machen, was er wolle. Dann lacht der Zuhälter und zeigt seine goldenen Zähne. Mit seinen schweren Halsketten, seinem schwarzen Audi A 8 und den gegelten Haaren sieht er aus wie ein überzeichneter Schurke aus einem Film.

„Alle Strohmänner und Schlepper arbeiten für den einen oder anderen Rom-König. So funktioniert das System“, sagt er. Die Roma seien dankbar, von ihm an Freier vermittelt zu werden, damit sie ihre Schulden bei den Bossen begleichen könnten.

Die Polizei in Duisburg kennt ein Haus in der zentral gelegenen Charlottenstraße, in der Dutzende Roma-Kinder hausen, „die zum Klauen ins ganze Ruhrgebiet, ins Rheinland und nach Belgien geschickt werden“, sagt ein Beamter. Offiziell äußern will er sich nicht. „Unsere Ermittlungen laufen ja noch.“

Sein bulgarischer Kollege Bezlov hält nichts von isolierten lokalen Ermittlungen gegen Aktivitäten wie die von König Kiro. „Die kriminellen Roma arbeiten grenzüberschreitend, die Polizei sollte es auch tun.“

Das Zentrum für Demokratiestudien hat den Kreislauf in einer aktuellen Studie beschrieben. Fast 90 Prozent der bulgarischen Roma sind arbeitslos gemeldet und verfügen nicht über ein regelmäßiges Einkommen. Die Sozialhilfe reicht selbst in den heruntergekommenen Blocks kaum für die Miete. Selten stellt sie jemand ein, wenn klar wird, dass sie Roma sind. Keine Bank gibt ihnen Geld. Sie müssen sich anderswo welches leihen. In der Studie wird die Zahl der Wucherer in Bulgarien auf landesweit 500 geschätzt. Ihre Zinsen liegen bei bis zu 100 Prozent. „Die Spirale dreht sich ein Leben lang“, heißt es in dem Papier.

Am 24. September 2011 dann überfuhr einer von König Kiros Männern einen 19 Jahre alten Bulgaren in seinem Dorf Katunitsa. Man sagte, der König habe den Auftrag dafür gegeben.

Es kam zu tagelangen Ausschreitungen zwischen Bulgaren, darunter auch viele Rechtsextreme, und bulgarischen Roma. Sie zündeten Rashkovs Häuser an. Demonstranten sagten, sie wendeten sich damit auch gegen die Korruption, gegen die Verflechtung von Menschen wie Rashkov mit der Politik. Irgendwann aber richteten sich die Proteste nicht mehr gegen die kriminellen Strukturen, die Kiril Rashkov aufgebaut hatte, sondern gegen Roma als solche. Eine absurde Situation: Einerseits litten viele von ihnen unter Männern wie Rashkov. Andererseits stellten Bulgaren sie nun gemeinsam mit ihm an den Pranger. Rechtsradikale behaupteten, alle Roma seien kriminell.

Spätestens in diesem Moment rissen offensichtlich König Kiros Verbindungen in die Politik, zumindest kurzfristig.

Am 28. September wurde Kiril Rashkov verhaftet, seine Paläste durchsucht, sein Vermögen beschlagnahmt. Die Delikte: Er soll dem Staat Steuern schulden und keine Baugenehmigungen für seine Häuser gehabt haben.

Seit Herbst 2011 sitzt der 69 Jahre alte Rashkov in einem Gefängnis in der Hauptstadt Sofia. Er werde dort kein Interview geben, teilt sein Anwalt mit.

„Wir haben keinen Zweifel daran, dass sein Netzwerk in Europa weiter funktioniert“, sagt Demokratieforscher Bezlov. Rashkov habe eine große Familie.

„König Kiro steht für ein weit gespanntes System“, erklärt ein hoher Polizeioffizier im bulgarischen Innenministerium. Der Mann will anonym bleiben. Bulgarien ist zwar seit 2007 Mitglied der europäischen Union, bislang verwehrt die EU aber den Beitritt zum Schengen-Abkommen, also den freien Personenverkehr. Organisierte Kriminalität im großen Stil würde die politischen Verhandlungen zu Schengen nicht gerade fördern.

Jeder Clanführer arbeite mit Wucherern, die sein Vermögen verwalten, sagt der Polizeibeamte. Sie investierten das Geld der Bosse und trieben über Mittelsmänner die Schulden ein. „Die Bosse bleiben im Hintergrund.“ Meistens hätten sie ein Geflecht von Dutzenden Unternehmen gegründet, um ihre Zinsgeschäfte zu verschleiern.

Die französische Polizei schätzt, dass heute die meisten Prostituierten auf westeuropäischen Straßenstrichen aus Bulgarien stammen. Mindestens 10 Prozent der festgenommenen Zuhälter stammten aus Bulgarien.

Alles eingenommene Geld werde über weltweite Transferleister wie Western Union oder über Boten zurück in die Heimat geschickt – nach Bulgarien und Rumänien, sagt der Leiter der französischen Sonderkommission für Menschenhandel. Das europäische Statistikamt Eurostat und die Weltbank beziffern die Summe der Transfers auf rund 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der beiden Länder.

Auch das Geld, das Luludja von ihren Freiern bekommt, fließt über den Kollegen ihres Fahrers zurück nach Bulgarien. Der französische Sozialarbeiter Philippe Loiseau kennt die ungeschminkte Seite von Frauen wie Luludja. Der schwere große Mann mit dem Bart arbeitet für die Secours Catholique, der französischen Caritas, und betreut Roma in fünf ihrer abgelegenen Lager rund um die Stadt Fréjus.

Man sieht Täter, die in Wahrheit Opfer sind

Er hat die 14 und 17 Jahre alten Töchter der Prostituierten Luludja monatelang von ihrem Camp im Caritas-Bulli zur Schule gefahren. Die beiden erzählten ihm, wie Luludja mit einem Zuhälter über sie verhandelt habe. „Luludja wollte alte Schulden mit den Töchtern bezahlen“, sagt Loiseau. Als er drohte, ihre Töchter ins Kinderheim zu geben, schickte Luludja die Mädchen zurück nach Bulgarien. Zumindest hat sie das Loiseau erzählt.

Er arbeitet seit Jahrzehnten mit Roma. Sachlich zählt er auf, dass einige der Roma häufig klauten, ihre Kinder zum Betteln ausnutzten und ihre Enkel auf den Straßenstrich schickten. Sie hätten keine Wahl. Sie hängen in Schuldennetzen fest.

„So lebt es sich als Mensch am Boden der Gesellschaft, egal welcher Herkunft“, sagt Loiseau.

Ihr Gesicht verschließt sich, wenn man sie fragt, wie genau sie nach Frankreich gekommen ist

Von den Roma-Siedlungen profitieren auch in Westeuropa Dutzende. Da ist der Karawanhändler in Fréjus, der seine zwanzig Jahre alten Wagen von Roma abholen lässt, um sich die Verschrottungsgebühr von 3.000 Euro zu sparen. Das sind die Bauarbeiter, die davon leben, die einstürzenden Mauern, bröckelnden Fußböden und gestückelten Fliesen der nicht gelernten Schwarzarbeiter zu reparieren. Im südfranzösischen Nizza, tief im Tal der Var, betreiben Roma mit Nordafrikanern und anderen Einwanderern einen unangemeldeten Flohmarkt in einem vorgelagerten Industriegebiet. Die Siedlung wird rechts von einer vierspurigen Schnellstraße und links von der Autobahn eingeschlossen. Einige hundert Meter weiter folgen Baumärkte, Möbelläden und Motels für die Transit-Trucks aus dem naheliegenden Italien.

Ein alter Mann bietet eine ölige Autobatterie an, junge Männer stapeln polnische Zigaretten auf ihrem Tisch, ein paar Meter weiter liegen Autoradios auf dem blanken Asphalt. Ein Schwarzmarkt, der unter Touristen als Geheimtipp gilt und auf dem am Sonntagmorgen auch Hunderte Franzosen einkaufen. Die Polizei ignoriert den Basar.

Der langjährige konservative Bürgermeister von Nizza, Jean Médecin, sagte einmal in einem Interview mit einer Lokalzeitung, es sei besser, die Migranten machten ihre kriminellen Geschäfte unter sich aus, „als in der Altstadt Handtaschen zu klauen“.

Man sieht nur den Diebstahl. Die Männer, die klauen lassen, sind nicht zu sehen.

Man sieht Täter, die Opfer sind.

Und kaum einer sieht all jene, die nicht stehlen, sondern für niedrigste Löhne arbeiten.

Auf dem Schwarzmarkt werden nicht nur gebrauchte Gegenstände, sondern auch Arbeiter gehandelt. Die Netzwerke, die von Bulgarien oder Rumänien bis nach Frankreich reichen, erhöhen mit den billigen Arbeitskräfte letztendlich die Gewinnmarge von Großproduzenten und Baufirmen in ganz Europa. Jeden Morgen kommen Abgesandte großer Baufirmen auf den Malocherbasar. Französische Bauunternehmen haben ihre feste Belegschaft in den vergangenen fünfzehn Jahren laut Angaben der Gewerkschaft Force Ouvrière halbiert. Nun werden Roma und Maghrebiner um sieben morgens wie auf einem Viehmarkt tageweise eingekauft.

Mal werden drei Männer zum Fliesenlegen gesucht, dann wieder „kräftige Kerle“, um eine Straße aufzureißen. Wie gehorsame Schüler melden sich die Männer, werden begutachtet und herausgefischt. Die Anwesenheit einer Reporterin stört sie nicht, längst ist das Geschäft ebenso öffentlich bekannt wie ignoriert. Daniel, der Mann der Prostituierten Luludja, wurde an seinem ersten Tag auf dem Arbeiterstrich als Maurer eingekauft, obwohl er noch nie eine Wand hochgezogen hatte. Er sei mit seinem Lohn von 25 Euro der billigste Arbeiter an dem Tag gewesen. „Ich war trotzdem froh“, sagt er.

In Bulgarien selbst sind die Roma-Bosse eng mit dem politischen System verwoben. So sind nach Angaben des bulgarischen Innenministeriums 70 Prozent der Insassen in bulgarischen Gefängnissen Roma, aber laut dem Kriminologen Bezlov ist Kiril Rashkov der erste Clanführer hinter Gittern. Die anderen werden wohl politisch protegiert.

„Die Roma-Bosse kaufen sich bei den politischen Parteien frei, indem sie ihnen Stimmen der Roma-Community verschaffen“, sagt Bezlov. „Roma werden genötigt, ihre Stimme der Partei zu geben, mit dem sich der Boss gerade verbündet hat.“ Sie müssen etwa Fotos von ihrem Stimmzettel machen, oder in ihrem Bezirk wird gezählt, ob auch alle für einen bestimmten, zahlenden Kandidaten gestimmt haben.

„Diese Art von politischer Abhängigkeit ist in Bulgarien allgegenwärtig – und so institutionalisiert, dass keiner der Mächtigen etwas dagegen unternimmt“, sagt Bezlov. Der Kriminologe hat als einer der wenigen bulgarischen Forscher zahlreiche Studien darüber veröffentlicht. Er riskiere damit sein Leben, sagt er.

„König Kiro wird bald wieder frei sein“, prophezeit Bezlov.

Vor zwei Jahren zeigten Gewerkschaften, dass 80 Prozent der edlen Trauben in der Champagner-Gegend von ungelernten Roma geerntet wurden. In Südeuropa pflücken sie Kirschen. In Deutschland stechen sie Spargel. Das System funktioniert.

Annika Joeres, 34, ist freie Journalistin in Südfrankreich

David Schraven, 42, arbeitet als Recherchechef bei der WAZ-Mediengruppe

Stanimir Vaglenov, 45, leitet die Online-Redaktion der Media Group Bulgaria

Dieser Text entstand mit Unterstützung des Europäischen Fonds für investigativen Journalismus

www.journalismfund.eu