Kampf gegen Schlankheitswahn: Dick und ungeniert
"Dick sein" wird negativ bewertet – bloß warum? Eine Initiative und ein neues Buch kämpfen gegen die Semiotik der angeblich "ungesunden", "doofen" und "undisziplinierten" Dicken.
Sigmar Gabriel, zum Beispiel. Man muss den dicken künftigen SPD-Chef nicht mögen, aber dass er öfter im Fernsehen zu sehen sein wird, hat seine Vorteile. Und Angela Merkel. Sie könnte noch 15 Kilo zulegen. Dass entlastete Millionen Bundesbürger in der Seele. "Es ist gut für uns, wenn dicke Personen öffentlich präsent sind", sagt Stephanie von Liebenstein, "das ist ein Zeichen, dass man nicht aussehen muss wie aus der Werbung, um weit zu kommen".
Liebenstein, 32, ist Vorsitzende der "Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung" in Stuttgart, eine Art deutscher Ableger der US-amerikanischen "Fat Acceptance"-Bewegung. Sie kämpft für eine neue "Semiotik" für die Dicken, wie die studierte Anglistin, Philosophin und Lektorin formuliert. Dick sein sei nur ein Körpermerkmal unter vielen, wie die Haarfarbe oder die Schuhgröße, aber eben mit "vielen negativen Zuschreibungen verbunden".
Bei rothaarigen Frauen, beispielsweise, behauptet heute keiner mehr, dass es sich dabei um Hexen handeln könnte. Und wer eine dunkle Hautfarbe als Zeichen irgendwelcher Defizite wertet, gilt als Rassist. Aber die Dicken! Sind angeblich undiszipliniert, unterschichtig und ungebildet. "Nur die Dicken sind die einzige Gruppe, auf der man weiter ungehindert herumhacken kann", meint Liebenstein, eine hübsche Dunkelhaarige, die mehr als 115 Kilo auf die Waage bringt.
Für Liebenstein wurde ein Arztbesuch zum Schlüsselerlebnis. Sie hatte wegen Rückenschmerzen vorgesprochen, der Doktor nahm sie am Schlafittchen wie ein ungezogenes Kind und zerrte sie vor ein Plakat, das einen Bandscheibenvorfall darstellte. "Wenn sie nicht 15 Kilo abnehmen, passiert ihnen das in fünf Jahren", drohte er. "Das ist so, als würde dir einer sagen: Wenn Sie nicht in fünf Jahren Elefantenohren haben, sterben Sie", meint Liebenstein. Heute kann sie darüber lachen.
Dieser Text stammt aus der aktuellen sonntaz vom 17./18. Oktober 2009. Mehr Reportagen, Essays und Kolumnen finden Sie zusammen mit der taz am Wochenende am Kiosk.
Body Mass Index: Den BMI kann sich jeder ausrechnen über die BMI-Rechner im Internet (zum Beispiel über www.frauenzimmer.de/bmi). In Deutschland liegt der durchschnittliche BMI der Frauen bei 24,8, jener der Männer bei 26,1, im gesamten Bevölkerungsdurchschnitt bei 25,5. Damit gilt ein Durchschnittswert schon als außerhalb einer gewünschten Norm, die Übergewichtsgrenze der Weltgesundheitsorganisation ist ein BMI von 25.
Nationale Verzehrstudie: Frauen aus der "Unterschicht" essen täglich nur 30 Gramm weniger Gemüse und Hülsenfrüchte als ihre Geschlechtsgenossinnen aus der "Oberschicht". Männer aus der "Unterschicht" trinken auch nur 100 Milliliter Bier am Tag mehr als Männer aus der Oberschicht. Wer gut ausgebildet ist, trinkt mehr Wasser! So billig sind Distinktionsmerkmale sonst nicht zu haben.
Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass Diäthalten nichts bringt. 25 Kilo hatte sie schon mal verloren, hatte für den Marathon trainiert und jeden Tag nicht mehr als 1.000 Kalorien zu sich genommen. Doch der Körper holte sich alles wieder zurück. Der Bremer Soziologe Friedrich Schorb zitiert großangelegte Studien, nach denen Diäthaltende zwei Jahre nach Abschluss eines professionellen Programms nur zwischen 2,7 und 3 Kilogramm leichter waren. Schorb hat ein Buch geschrieben: "Dick, doof und arm? Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert". Schon der Begriff "Übergewicht" ist eine umstrittene Konstruktion.
Früher bediente man sich in Deutschland der Broca-Formel. Man zog von der Körpergröße 100 ab, die Zahl, die dann herauskam, in Kilo, galt als Normalgewicht. Doch aus den USA trat in den 90er-Jahren der Body Mass Index (BMI) auf den Plan. Bei dieser Formel multipliziert man die Körpergröße in Metern mit sich selbst. Dann teilt man das Gewicht durch diesen Wert. Eine Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf legte 1997 fest, dass ein Mensch mit einem BMI größer als 25 als "übergewichtig" und größer als 30 als "adipös", also fettleibig, zu gelten habe. Dies war eine statistische Festlegung ohne fundierte medizinische Begründung.
Auch in Deutschland aber ist damit schon die Norm gesetzt. Eine 1,70 Meter große Frau mit 73 Kilo Gewicht beispielsweise gilt als "übergewichtig" - das Wort klingt schon irgendwie nach "zu viel" und "ungesund". Der BMI ist dabei ungenau, denn auch ein gut trainierter Mensch wie Brad Pitt hat einen "übergewichtigen" BMI, weil Muskeln schwerer sind als Fett. Außerdem steigt der BMI mit dem Alter und das ist nun mal keine Krankheit.
Und dann die Sache mit der "Unterschicht"! Es stimmt zwar, dass der BMI mit höherem Bildungsgrad abnimmt. Doch der Zusammenhang zwischen dem Konsum von als Dickmachern verschrieen Lebensmitteln und dem Bildungsgrad sei "geringer als vermutet", erklärt Schorb und bezieht sich dabei auf die zweite Nationale Verzehrstudie in Deutschland.
Frauen und Männer aus den unteren sozialen Schichten essen beinahe genauso viel Obst wie Frauen und Männer aus der Oberschicht. Es kann also auch an den stressigen Lebensbedingungen, den niedrigen Preisen für kalorienreiche Lebensmittel und vielleicht auch der Verweigerung gegenüber bürgerlichen Körpernormen liegen, dass ärmere Menschen im Schnitt dicker sind.
Doch ein geringes Übergewicht ist gar nicht schlimm: Ein US-Forscherteam von den Centers for Disease Control in den USA kam zu dem Schluss, dass ein leichtes Übergewicht im Alter der Gesundheit sogar zuträglich sein kann. Erst bei ausgesprochen adipösen Menschen mit einem BMI größer als 35 steigen die gesundheitlichen Risiken, erklärt Schorb. Doch dies sind nur 5,6 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Übrigens: Die Zahl der übergewichtigen Schulanfänger in Deutschland stagniert.
"Handelt es sich beim Übergewicht womöglich eher um ein ästhetisches Problem ?" fragt Schorb kritisch. Tja. Da gibt es natürlich Gegenmodelle in den Medien. Ottfried Fischer zum Beispiel, der beliebte dicke "Bulle von Tölz" aus dem Fernsehen. Doch genau dieses Serienrollenbild findet Liebenstein nicht gut. "Er ist asexuell, wird von Muttern durchgefüttert. Der schadet unserer Sache, weil er Vorurteile bedient", meint sie. Und mit den falschen Zuschreibungen, da fängt ja alles an.
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