Kolumne Zeitschleife: Gefühlsausbeutung zum Jahresende

Es wird so viel weggeschaut heutzutage - nur nicht im Unterhaltungsfernsehen.

Das wäre der sogenannte Sekundentod geworden. Am Sekundentod sterben nämlich jedes Jahr mehr Menschen als an Krebs." Margarete Schreinemakers ist 2009 für sechs Minuten das Herz stehengeblieben, jetzt hat sie ein paar Fakten parat über die Art Tod, die "das" bei ihr beinahe "geworden wäre" und erzählt sie Johannes B. Kerner. Was nicht zu beanstanden wäre - aber sie muss es natürlich im Fernsehen tun.

2009. Was für ein Jahr. Um mir vor Augen zu führen, was das aber mal wieder für ein Jahr war, hab ich mir am Wochenende die Jahresrückblicksshow mit Kerner angeschaut. Ich war in eine unkontrolliert träge Familienfernseherei geraten, antriebslos knabbernd hing man auf der Couch und glotzte. Freilich bildete die Show nicht wirklich das Jahr ab, das war - sonst hätte man ja Fässer aufmachen müssen, deren Inhalt einem Millionenpublikum schon mal einen Advent oder zwei verderben könnte. Stattdessen ging es primär und wie üblich um das emotionsexploitative Reden über Tod und Unglück, über das der K dann das Universaltrostpflaster seiner einfühlsamen Präsenz pappte.

Da ist ein Mann, der aus einem Flugzeug mit ungeöffnetem Fallschirm in ein Kornfeld fiel. Und ein anderer Mann, der das sah und den Notruf verständigte. Der K fiedelt herum, was für eine Heldentat es nachgerade sei, den Notruf zu verständigen, nachdem man einen Mann aus dem Himmel in ein Kornfeld hat fallen sehen. Er gratuliert dem Anrufer, der es merklich normal findet, den Notruf zu verständigen, wenn man einen Mann aus dem Himmel in ein Kornfeld hat fallen sehen, zu seinem "couragierten Handeln". Weil ja so "viel weggeschaut" wird und weil das "nicht selbstverständlich" ist heute, dass jemand überhaupt irgendwas tut. Jeder, der in sich die Courage spürt, auch den Notruf zu verständigen, wenn er/sie mal einen Mann aus dem Himmel fallen sähe, darf sich mitgetätschelt fühlen und sich noch ein Plätzchen vom Wohnzimmertisch nehmen. Da ist die Frau eines der Opfer des Erdrutschs von Nachterstedt, die wenig sagt in den zwei Minuten, aber immer blasser wird, bevor K sie verabschiedet: "Ich danke Ihnen sehr, dass Sie hierher gekommen sind, dass Sie die Kraft hatten, noch einmal darüber zu reden." Und man hat den Eindruck, die Frau wurde nur eingeladen, damit der K dann diesen einfühlsamen Satz sagen kann.

Der Vater von Michael Jackson sieht aus wie die Mumie und hat eine Mordtheorie, behauptet, dass Michael "ein glücklicher Mensch" war und dass es ihm, dem Alten, "nicht ums Geld, sondern um Gerechtigkeit" gehe, woraufhin K ihn zu seiner Nachdenklichkeit beglückwünscht. Und Oliver Pocher sagt, er sei "direkt schockiert" gewesen, als er die Nachricht vom Tod Robert Enkes erhalten habe. Wobei ich immer noch nicht ganz kapiert habe, in welchem Wortsinn diese Neudeutschsprecher das ja schwer in Mode gekommene "direkt" verwenden. "Umgehend"? "Ohne Umschweife"? "Richtiggehend"? Ich tippe eher auf eine Verstärkungsfloskel à la "total" resp. "voll so", jedenfalls attestiert der K dem Pocher, der ja nun auch ein Kind kriegt, weswegen er laut eigenem Bekunden "Sachen mit anderen Augen" sieht und einen Sprachgestus an den Tag legt wie in seinen Jogi-Löw-Parodien, am Ende des Gesprächs, er sei ja doch "ein durchaus ernsthafter junger Mann".

Im Werbeblock sagen sie, es gebe "37 Arten von Kopfschmerzen, die Sie selbst behandeln können". Es gibt sogar eine 38., und ich behandle sie, indem ich mich in Zukunft vom Unterhaltungsfernsehen fernhalte.

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