Richterin verteidigt Bagatellkündigungen: "Fehlender Anstand"
Ingrid Schmid, Präsidentin am Bundesarbeitsgericht, findet es richtig, wenn Arbeitnehmer wegen unerlaubten Essens einer Frikadelle gekündigt wird. Die Kritik der Politiker sei "völlig daneben".
MÜNCHEN afp/dpa | Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Ingrid Schmidt, hat Verständnis für Arbeitgeber gezeigt, die Angestellten wegen kleiner Vergehen kündigen. "Es gibt keine Bagatellen", sagte sie im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Seit Jahrzehnten gelte die Rechtsprechung, wonach Diebstahl oder Unterschlagung auch geringwertiger Sachen ein Kündigungsgrund sei. Arbeitnehmer, die ihrem Arbeitgeber etwas entwenden, zeigten ein Verhalten, das "mit fehlendem Anstand" zu tun habe, sagte Schmidt. "Wie kommt man eigentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzunehmen? Oder eine Klo-Rolle, oder stapelweise Papier aus dem Büro?"
Schmidt verteidigte die Richter unterer Instanzen, die sogenannte Bagatellkündigungen im zu Ende gehenden Jahr für rechtmäßig erklärt hatten. "Jeder frage sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Tasche nehmen lassen würde, bevor er reagiert." Die Kritik von Gewerkschaftern und Politikern sei "völlig daneben" gewesen, sagte sie. Die Richterin bezweifelte zudem die Wirksamkeit eines von der SPD geplanten Gesetzes zum Schutz vor Bagatellkündigungen.
Im abgelaufenen Jahr hatten mehrere Arbeitsgerichtsprozesse nach Kündigungen wegen sogenannter Bagatelldelikte Aufsehen erregt. Eine Supermarkt-Kassiererin wurde nach 31 Jahren entlassen, weil sie zwei liegengebliebene Pfandbons im Wert von 1,30 Euro für sich verwendet hatte. Einer Sekretärin wurde gekündigt, nachdem sie beim Anrichten eines Imbisses eine Frikadelle verspeist hatte. Und eine Altenpflegerin musste gehen, weil sie trotz ausdrücklichen Verbots nach der Essensausgabe an die Heimbewohner sechs übriggebliebene Maultaschen eingesteckt hatte.
In den unteren Instanzen haben die Arbeitsgerichte solche Kündigungen für rechtmäßig erklärt und sich damit Kritik von Gewerkschaftern und Politikern zugezogen. Sogar der Diebstahlverdacht reicht nach Ansicht einiger Richter schon aus, um eine Kündigung auszusprechen.
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