die wahrheit: Die Volkshochschule des Heavy Metall

Wegen Mötley Crüe war die Berliner Columbiahalle ausverkauft, jedenfalls zur Hälfte. ...

Wegen Mötley Crüe war die Berliner Columbiahalle ausverkauft, jedenfalls zur Hälfte. Frontman Vince Neil reckte wie immer stolz sein Kinn in die Festbeleuchtung, und das zweite natürlich auch. Wie ein fetter Ochsenfrosch mit langer blonder Perücke stand er im Raum und mit ihm eine Frage: Ist er wirklich so ein ausgepichter Profi oder hat ihn Gott einfach nur mit einer barmherzigen Wahrnehmungsstörung beschenkt? Noch mehr als ihn konnte man allerdings jenen namenlosen Roadie bedauern, der an diesem Abend Neils Korsett schnüren musste. Der brauchte keinen Absacker, der hatte die nötige Bettschwere.

Auch Mick Mars, der "Gitarrist", eine Ruine von Anfang an, schien sich durchaus noch ein bisschen zu seinem Nachteil verändert zu haben, er besaß jetzt gar keinen Hals mehr. Noch zwei Zentimeter weniger, und sein Kopf wäre bis zu den Ohren in den Torso gerutscht. So schön war das jetzt auch wieder nicht.

Nur Tommy Lee, der Mann, der immer dorthin gegangen ist, wo es wehtut, in die Umkleidekabine von Pamela Anderson zum Beispiel, hatte sich zumindest aus der Entfernung nicht wesentlich verändert. Offenbar hält das Schlagzeugspiel Körper und Seele zusammen - in Verbindung mit viel Heroin.

Eine Träne des Jammers musste erst mal verdrückt werden. Aber dann sah ich mich um im Auditorium, und dann an mir herunter, und ich wusste, es war ungerecht und schäbig, so zu denken. Wenn der Metal-Struwwelpeter nicht mal im gnädigen Halbdunkel des Saals leidlich in Würde altern kann, wie soll das da oben auf der Bühne gelingen, im 1.000 Watt hellen, alle Problemzonen grausam ausleuchtenden Suchscheinwerfer. Und da wusste ich plötzlich noch etwas anderes: Eine Show von Mötley Crüe war immer schon ein zwar von Marshall-Wänden verstärktes, entsprechend verzerrtes, aber doch so etwas wie ein Abbild unserer Realität. Das traf für die Achtzigerjahre zu, als die Fönwelle gerade auch der männlichen Metal-Messdiener mehr Zeit in Anspruch nahm als die von Kylie Minogue und Oma Uelzen. Und das trifft auch heute noch zu, da der Familienfriseur ins Haus kommt und sich der ehemals drahtige, bocksvitale Adonis endlich dem Grundprinzip des Universums voll und ganz unterworfen hat: Das dehnt sich ja angeblich auch immer weiter aus.

Auf einmal überkam mich ein Gefühl bandumarmender Zuneigung, das sogar Mick Mars mit einschloss. Ihm, der wie die Augsburger-Puppenkisten-Version des Glöckners von Notre-Dame auf der Bühne herumstieselte, mit dem Bewegungsradius eines Platzdeckchens, machte es wirklich keinen Spaß mehr. Und auch bei Tommy Lee funkelten deutlich die Krampen an den Ohrläppchen, wo er seine Mundwinkel angetackert hatte.

Nein, das hier war kein Fun mehr, sondern ein Stahlbad. Die da oben starben für uns den Stellvertretertod, sie machten den Job, damit wir aus ihrem schlechten Beispiel lernen sollten. Das hier war eine Art Volkshochschulkurs in Demut und realistischer Selbsteinschätzung - und Vince Neil ein allemal überzeugender Pädagoge.

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kari

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