Unklarer Lissabon-Vertrag: Streit um EU-Kompetenzen
Eigentlich hat der Lissabon-Vertrag die Rechte des EU-Parlaments gestärkt. Doch weil vieles im Vertrag unklar formuliert ist, streiten Rat und Parlament um Kompetenzen.
Als die europäischen Abgeordneten am 11. Februar mit großer Mehrheit das Bankdatenabkommen Swift mit den USA platzen ließen, ging ein fast ehrfürchtiger Schauer durch den Plenarsaal in Straßburg: Die transatlantischen Beziehungen stehen still, wenn unser starker Arm es will. Fast schien es, als seien die Parlamentarier ein bisschen erschrocken über die neue Macht, die ihnen der Lissabon-Vertrag zugesteht. Nach der ersten Schrecksekunde aber sagten einige fast trotzig: US-Präsident Barack Obama muss schließlich auch damit klarkommen, dass der Kongress seine Pläne in Sachen Klimaschutz oder Krankenversicherung vereitelt.
Doch die Rechte, die dem Kongress in Washington ganz selbstverständlich zustehen, muss sich das Europaparlament Schritt für Schritt erst erkämpfen. Die EU-Kommission verhandelt derzeit mehrere weitreichende internationale Abkommen. Auf der neuen seit 1. Dezember gültigen Vertragsgrundlage muss das EU-Parlament am Ende seine Zustimmung geben. Ob es aber Einblick in die laufenden Verhandlungen nehmen darf, prüfen die Juristen noch. "Wir sehen uns vor Gericht wieder", rief der grüne Abgeordnete Carl Schlyter am Dienstagabend Handelskommissar Karel De Gucht in einer Fragestunde zu. Da sich die EU-Kommission seit Monaten weigert, dem Parlament Einblick in die Verhandlungsunterlagen zum Abkommen gegen Produktpiraterie (Acta) zu gewähren, wollen die Abgeordneten die Herausgabe der Papiere nun über eine Klage beim Europäischen Gerichtshof erzwingen.
Mit Libyen verhandelt die Kommission seit Monaten ein Rücknahme- und Visaabkommen. "Wir lassen von unserem juristischen Dienst gerade prüfen, ob sie uns Informationen über den Verhandlungsstand verweigern können", sagte die grüne Außenpolitikerin Franziska Brantner der taz. Es sei ganz sicher nicht im Sinne des erweiterten parlamentarischen Mitbestimmungsrechts, hinter verschlossenen Türen einen Vertrag zu formulieren und ihn dann im Friss-oder-stirb-Verfahren den Abgeordneten vorzulegen.
Auch in die Verhandlungen zwischen Rat und Kommission über die Ausgestaltung des neuen Europäischen Auswärtigen Dienstes ist das Parlament nicht eingebunden. Eine Arbeitsgruppe hoher Beamter aus den Mitgliedsländern und der EU-Kommission erarbeitet die Papiere. "Die Kommission nutzt das Vakuum, bevor der Diplomatische Dienst etabliert ist", kommentiert der zuständige Berichterstatter des Parlaments, Elmar Brok (CDU), im Gespräch mit der taz.
Viele Abgeordnete sind verärgert, weil Rat und Kommission den Auswärtigen Dienstes als allein ihre Zuständigkeit betrachten. Bei der Anhörung der neuen EU-Außenministerin Catherine Ashton im Auswärtigen Ausschuss versuchten die Fragesteller vergeblich, der Kandidatin mehr parlamentarische Kontrolle abzutrotzen. Sie werde von den Bewerbern für Spitzenposten nicht verlangen, sich zuvor im Europaparlament zu präsentieren, stellte Ashton klar.
Den Weisenrat, der die Organisationsstruktur für den Dienst ausarbeiten soll, besetzte die Britin mit hochrangigen Beamten aus Kommission und Rat - darunter Helga Schmid, die ehemalige Büroleiterin von Außenminister Joschka Fischer und spätere Chefin des Planungsstabs von Ashtons Vorgänger Javier Solana. Doch seit Ende Februar sitzt eine Beamtin des Europaparlaments wenigstens als Beobachterin mit am Tisch. Denn am Ende muss das EU-Parlament das Budget für den neuen Dienst bewilligen. "So langsam kommen sie auch beim Rat darauf, dass ohne uns nichts läuft", erklärt Brok zufrieden.
Wenn der neue Dienst eine eigenständige Struktur erhalten solle, müssten dafür die haushaltsrechtlichen und beamtenrechtlichen Grundlagen geschaffen werden. "Da muss das Parlament zustimmen. Je besser uns der Vorschlag gefällt, desto schneller kann das geschehen." Mit dem Parlament werde es nur eine Paketlösung geben - und über die werde derzeit hinter den Kulissen heftig gerungen.
Im Rat ist man ebenfalls nicht untätig. Generalsekretär Pierre de Boissieu hat die Abteilungen für Verteidigungsplanung und Ziviles Krisenmanagement zusammengelegt und dadurch, nach Einschätzung von Beobachtern, die militärische Komponente in den Planungsstäben gestärkt. Für Aufsehen sorgt in Brüssel auch, dass Ashton die drei Dienststellen des Rates, die Geheimdienstinformationen sammeln und aufbereiten, in einer Abteilung zusammenlegen will. Als deren neuer Chef ist William Shapcott, ein ehemaliger britischer Diplomat und derzeit Chef des größten dieser Nachrichtenzentren, im Gespräch. Dabei geht es nur vordergründig um Posten. Die alten Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien wollen die neue Institution nutzen, um möglichst viel Einfluss auf die Außenpolitik der Union zu behalten.
Auch Deutschland will dabei mitreden. In Berlin muss sich die Bundeskanzlerin vorwerfen lassen, sie kümmere sich zu wenig um deutsche Interessen in der EU. Angela Merkel kann immerhin darauf verweisen, dass Mitte 2011 ihr Vertrauter Uwe Corsepius als neuer Generalsekretär des Rates dem Franzosen Boissieu nachfolgen wird.
Auch um die Arbeitssprachen im neuen Diplomatischen Dienst wird hinter den Kulissen gerungen. Erhält der Dienst das Sprachenregime des Rates, wird intern nur Englisch und Französisch gesprochen. Gelten die Regeln der EU-Kommission, ist dagegen auch Deutsch als Arbeitssprache zugelassen. Darüber werde erst in einer späteren Phase gesprochen, heißt es aus deutschen Ratskreisen. Deutschland gehe aber davon aus, dass die deutsche Sprache dem Englischen und Französischen gleichgestellt werde.
Über solchen Auseinandersetzungen drohen sich die großen Mitgliedsländer im Rat gegenseitig auszuhebeln. Das EU-Parlament verbraucht viel Energie damit, seine neue Rolle zu finden und seine Rechte klären zu lassen. Als Nutznießer der Streitereien über das Kleingedruckte des Lissabon-Vertrag kann zunächst EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso gelten. Er hat Parlament und Mitgliedstaaten mit Zähigkeit und guten Nerven dazu gebracht, ihn bereits im September 2009 für eine zweite Amtszeit zu wählen. Seither baut er seine Einflussmöglichkeiten in der Außenpolitik geschickt aus und bringt sich als Retter der Europäischen Währungsunion ins Gespräch.
Gefährlich werden könnte ihm ein Mann, der ob seiner Unscheinbarkeit oft unterschätzt wird: Ratspräsident Herman Van Rompuy, der grauhaarig zerzauste Belgier mit dem Faible für japanische Verse, hat seine ersten hundert Tage im Amt gut genutzt, um in den Hauptstädten für seine Ideen zu werben. Einmal pro Monat will er die Regierungschefs in Brüssel versammeln und sie auf eine gemeinsame Linie einschwören - vor allem in der Wirtschaftspolitik. Wenn sich die nationalen Regierungen seiner sanften Führung unterwerfen, könnten sie Einfluss zurückgewinnen. Allzu sehr müssen sich Parlament und Kommission davor aber nicht fürchten. Bis jetzt konnte man sich stets darauf verlassen, dass sich die Regierungen im Rat bei wichtigen politischen Fragen gegenseitig ausbremsen.
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