Interview mit Ingrid Wedlich über sexuelle Gewalt: "Täter handeln planvoll"

Ingrid Wedlich von der Bremer Beratungsstelle Schattenriss über den Umgang mit sexuellem Missbrauch und wie man versuchen kann, diesen zu verhindern

Kein Schutz zuhause: Sexuelle Gewalt geschieht vor allem in der Familie und im familiären Umfeld. : dpa

taz: Frau Wedlich, sexuelle Gewalt, so erweckt die aktuelle Debatte gerade den Eindruck, kommt vor allem in der katholischen Kirche vor - und in allzu liberalen Reformschulen. Sind das besonders gefährdete Einrichtungen?

Ingrid Wedlich: Nein, sexueller Missbrauch geschieht überall, vor allem in der Familie und im familiären Nahbereich. Aber auch in Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und im Behindertenbereich.

Wie können solche Institutionen verhindern, dass Kinder bei ihnen zu Missbrauchs-Opfern werden?

Indem sie sich ein ganz klares Konzept geben, wie sie mit dem Thema sexueller Missbrauch umgehen, Richtlinien erarbeiten, an die sich alle halten und die bereits in Einstellungsgesprächen offengelegt werden.

Um potenzielle Täter abzuschrecken?

ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, seit 2001 bei Schattenriss.

Hier gibts Hilfe

Viele Beratungsstellen sind auf sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen spezialisiert, beraten aber auch Jungen und Männer oder vermitteln Kontakte.

Für die Länder Niedersachsen und Bremen findet sich eine Übersicht über Beratungsstellen unter: www.frauen-und-maedchenberatung-gegen-gewalt.de

In Hamburg bietet das Branchenbuch Tausendfüssler einen Überblick über Anlaufstellen www.tausendfuessler.de/

In Schleswig-Holstein bietet die pro familia Rat:

www.profamilia-sh.de

Weiterhin gibt es in fast allen Großstädten den Frauennotruf. Zum Beispiel: www.frauennotruf-hannover.de

Ja.

Was würde in diesen Richtlinien stehen?

Es muss für die Kinder und Eltern ganz klar sein, bei wem sie sich Hilfe holen können. Das wäre idealerweise an einer Schule keine Lehrkraft, die Noten vergibt, sondern eine Sozialpädagogin.

Das ist aber nicht der Fall?

Nein, in Bremen sind die Ansprechpartner meistens die Vertrauenslehrerinnen.

Reicht es, wenn diese Vertrauensperson über das Thema sexueller Missbrauch informiert ist?

Nach unserer Vorstellung nicht, wir wünschen uns, dass sich auf jeden Fall die Leitung fortgebildet hat und möglichst jeder und jede die Warnsignale kennt, die ein Anzeichen dafür sein können, dass ein Kind missbraucht wird.

Welche sind das?

Das können relativ eindeutige Verhaltensauffälligkeiten sein wie sexualisierte Sprache und Verhalten, aber auch alle mögliche Stresssymptome wie Konzentrationsschwierigkeiten und Rückzug. Das Problem ist, dass viele Erwachsene erst einmal an alle möglichen Ursachen denken, wie die Scheidung der Eltern, aber nicht an sexuellen Missbrauch.

Obwohl der wieder und wieder in den Medien thematisiert wird, auch, wie oft der geschieht?

Ja, dennoch ist das für die meisten etwas, was ganz weit weg ist, das niemals im eigenen Umfeld, der eigenen Familie oder im Kollegium stattfinden könnte. Offenbar ist die Vorstellung so schwer auszuhalten, dass das verdrängt wird.

Oder die Angst zu groß, jemand zu Unrecht zu verdächtigen.

Natürlich, das gibt es auch. Das Thema ist hochsensibel und löst die unterschiedlichsten Gefühle und Impulse aus. Gerade deshalb ist es ja so wichtig, ein Konzept zu haben, wie in Verdachtsfällen vorgegangen werden soll.

Wie nämlich?

Wem etwas auffällt, sollte sich Beobachtungen notieren. Und man sollte sich mit Kollegen austauschen, die auch Kontakt zu dem Kind haben.

Und wenn man sich sicher ist, die Polizei einschalten?

Besser ist es, sich vorher an eine Beratungsstelle zu wenden, um die weiteren Schritte abzusprechen und eine Rechtsberatung bei einer erfahrenen Anwältin in Anspruch zu nehmen. Eine Anzeige kann nicht mehr zurückgezogen werden, die Polizei ist verpflichtet, zu ermitteln. Es kann aber unter Umständen für das Opfer besser sein, wenn der Missbrauch zunächst nicht angezeigt wird, weil er oder sie zu dem Zeitpunkt nicht stabil genug ist und eine detaillierte Aussage über einzelne Taten zu belastend wäre. Und man muss sich immer klar machen, dass ein Missbrauch vor Gericht schwer nachzuweisen ist, weil es selten mehr Beweise gibt als die Aussage des Opfers. Wenn man dann auch noch vorschnell handelt, kann der Täter das Kind noch stärker unter Druck setzen und das sagt dann gar nichts mehr.

Wer sind eigentlich die Täter? Liest man momentan die Zeitung, handelt es sich immer um Pädophile, also um Menschen, die ihre Sexualität ausschließlich auf Kinder ausrichten.

Nur fünf bis 13 Prozent der Täter sind im strengen Sinne pädophil, die allermeisten haben auch zu Erwachsenen Sexualkontakte oder könnten sie haben.

Das heißt auch, das sind keine Menschen, die hilflos ihren Trieben ausgeliefert sind?

Nein, die Täter handeln planvoll.

Warum missbrauchen sie überhaupt Kinder?

Weil es einfach ist. Kinder sind leicht zu beeinflussen, sie sind abhängig und Erwachsene sind ihnen in jeder Hinsicht überlegen. Und es geht ja nicht in erster Linie um Sex. Sexualität ist nur das Mittel, um etwas anderes zu erfahren, ein Gefühl von Macht oder auch Nähe und Zuwendung.

Sie haben eingangs beschrieben, wie sich Institutionen idealerweise verhalten sollten. Wie weit ist es denn damit?

Da könnten wir schon weiter sein, aber das ist nun einmal ein mühseliger Prozess, der Zeit und Geld kostet. In Bremen sieht es im Erziehungsbereich ganz gut aus, da bilden wir Erzieher und Erzieherinnen fort, aber das ist nicht flächendeckend. In Schulen gibt es eine Richtlinie, die den Umgang bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch vorgibt und ein Präventionsprojekt für die 3. und 4. Klasse, das von uns fortgebildete Polizisten durchführen - ebenfalls nicht flächendeckend.

Und in Sportvereinen?

Dort ist nach meinem Wissen bis auf eine Fortbildung noch nichts passiert, dabei wäre es dort unbedingt notwendig.

Kann man eine solche Fortbildung nicht wenigstens den staatlichen oder staatlich geförderten Einrichtungen verordnen?

Ja, aber dann müsste man unsere und die anderen Beratungsstellen mit wesentlich mehr Geld ausstatten als bisher, damit unsere Arbeit langfristig abgesichert werden kann. Wir bekommen ja so schon mehr Anfragen nach Beratungen und Fortbildungen, als wir mit unseren viereinhalb Stellen bewältigen können.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.