die wahrheit: Blowjob to go
Die Buhgebiete der Nation: Strukturschwache Regionen sind für die Gesellschaft das, was bei Männern die Hinterkopfhalbglatze ist.
Strukturschwache Regionen sind die Hartz-IV-Bezieher unter den Regionen - es geht ihnen schlecht, aber immer noch besser, als es ihnen eigentlich gehen dürfte.
In strukturschwachen Regionen ziehen immer zuerst die jungen Frauen weg. Das ließe sich noch verschmerzen. Doch dann folgen die Ziegen und Schafe. Danach liegt die Sexualität der männlichen Restbevölkerung endgültig am Boden, und auch die Männer gehen. Zurück bleiben die Alten, die Deppen und die Bürgermeister, die sich als Dagegenstemmer unermüdlich engagieren, für den Erhalt des Papierkorbs vor dem früheren Dorfkonsum zum Beispiel oder gegen die Ansiedlung von Wolfsrudeln.
Strukturschwache Regionen sind Heimat für Dinge wie das erste Zierkürbis-Museum Deutschlands, eine Reißzweckenmanufaktur oder die Außenstelle eines Bundesamts mit ungeklärtem Aufgabenbereich. In Reiseführern findet gelegentlich auch das Elternhaus Erwähnung von jemandem, der irgendwann einmal als Bremser Sechster bei einer Vierer-Bob-Junioren-Europameisterschaft geworden ist oder im Wald einen besonders großen Pilz gefunden hat. Landwirtschaftliche Flugzeuge lassen über strukturschwachen Regionen gelegentlich nicht mehr benötigte Herbizide ab; die Proteste halten sich, da von der Grundstimmung "Ist ja eh egal" getragen, in Grenzen.
In strukturschwachen Regionen stehen am Sonntag zur besten Gottesdienstzeit noch genau drei Fahrzeuge vor der Kirche: ein älterer Kombi des Organisten, ein Fahrrad des Pfarrers und ein Rollator für die Gemeinde. Die Bewohner leben von Transferleistungen, Flaschenpfand und davon, dass sie beim "Frauentausch" auf RTL mitmachen.
Fast immer gibts für strukturschwache Regionen ein von externen Experten erarbeitetes Entwicklungskonzept. Würde dieser Plan befolgt worden sein, so wäre manches vorpommersche 120-Seelen-Dorf längst weltweit führendes Wintersportzentrum, Ausrichter der Oscar-Preisverleihung oder Hauptsitz der Coca-Cola-Company. Missliche Umstände und inkompetente Politiker verhindern dies jedoch regelmäßig, so dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg Fördermittel eingesetzt werden müssen. Schlauerweise aber selbstverständlich so, dass der Status als strukturschwache Region und damit die weitere Förderung nicht verloren gehen.
Als sehr praktisch hat sich auch der Umbau des Landratsbüros zur Festung, alternativ zum Lustschloss erwiesen, außerdem die Eröffnung einer Wasserskianlage, und zwar selbst dann, wenn sich im gesamten Landkreis bis auf ein paar Feuerlöschteiche mit dick Entengrütze drauf kein einziges Gewässer befindet. Hinzu kommen fast flächendeckend modernste Schützenvereinshäuser und neu gestaltete Ortszentren mit einer unverständlichen Edelstahlplastik inmitten eines Wasserspiels.
Im Bundesland Brandenburg, das überwiegend aus stillgelegten Truppenübungsplätzen besteht, werden strukturschwache Regionen erst einmal überdacht, und dann sieht man weiter. So ist Tropical Islands entstanden, eine Großraumschwimmhalle mit Tanzshow und Zikadenzirpen vom Band. Andere Bundesländer versuchen ihre strukturschwachen Landkreise an Nachbarländer zu verkaufen, oder sie siedeln dort Gewerbe an, die herkömmliche Leistungen in modernem Gewand anbieten, etwa den "Blowjob to go".
Am Ende aber hilft das alles nichts. Denn eine strukturschwache Region ist auf dem Atlas der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit das, was beim männlichen Körper die Hinterkopf-Halbglatze ist: Wenn du sie erst einmal hast, wirst du sie auch nicht wieder los.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!