Spurensuche: Die Heimat blickt fremd zurück
Das San Fernando Valley ist überall: Die Fotos von Larry Sultan in der Hannoverschen Kestnergesellschaft zeigen die Suche nach dem Elternhaus unserer Kindheit, das es so nie gab.
"Katherine Avenue 4800. Geh die Straße hinunter und du kommst direkt hin. Für mich war es der Mittelpunkt der Erde. Es war die Straße meiner Kindheit, und dort war das einzige Zuhause, das je für mich Bedeutung hatte." Heimat als Mythos und Utopie - aber auch als Raum, durch den sich der Mensch in seiner Existenz erfährt, an den er sich unhintergehbar gebunden fühlt und auf den er sich sein Leben lang bezieht.
Als Trilogie zu diesem Themenkomplex zeigt die Hannoversche Kestnergesellschaft drei Bilderserien des Fotografen Larry Sultan, die Fotografiegeschichte geschrieben haben. Die "Pictures from Home" entstanden 1984 bis 1992 bei Besuchen des Elternhauses an der Straße der Kindheit im San Fernando Valley, nordwestlich von Los Angeles. Der vor sieben Monaten 63-jährig verstorbene Fotokünstler wollte zeigen, was die neoliberalen Reagan-Politiker hinter den picobello Fassaden angerichtet haben. Dort, wo die Mittelstandsfamilien als eigentlich unangreifbares Refugium ihren amerikanischen Traum leben wollen, den Glaube an rechtschaffene Anstrengung.
So porträtiert Larry Sultan den gerade arbeitslos gewordenen Vater auf seinem Bett, er hockt dort wie bestellt und nicht abgeholt, im schnieken Business-Outfit ratlos untätig, aber bemüht würdevoll der Leere entgegenstarrend. Ein Stillleben seines Schreibtisches zeigt eine Sammlung von Rabattcoupons für Supermärkte. Zu sehen ist Sultan senior im Kampf mit dem Staubsauger, beim Golfspielen auf dem Teppichrasen. Er strebt mit Luftmatratze und Badehose dem Pool zu - wie ein Kind mit Geige und Sonntagsanzug dem Fußballplatz.
Da kann Larry Sultan junior die Blumenbeete im Garten, die grüne Pracht akkurater Rasensprengerei, die betuchte Gemütlichkeit des Mobiliars und die zum Dinner vorbereiteten Truthähne noch so perfekt fotografieren, seine Mutter sich noch so hübsch in Schale schmeißen: Papa guckt weg, liest den Wirtschaftsteil der Zeitung, verfolgt Baseball im Fernsehen.
Das wärmende Wohlgefühl erinnerter Heimat löst sich auf in Ambivalenzen, Widersprüche treten auf, und an diesem Punkt sind die Aufnahmen längst nicht mehr nur politisch motiviert. Sie sind auch ein Porträt gemeinsamen Alterns: in der Nähe, so fern. Die dokumentarisch stilisierten Szenerien zeigen die Eltern puppenhaft, geradezu hyperrealistisch erstarrt und gleichzeitig romantisch verklärt. Kinematografisch wie ein Melodram ausgeleuchtet, reich an anekdotischen Details, fast auf Kinoleinwandgröße präsentiert, so entsteht nun der Ausdruck eines bedrohlichen Gefühls von Heimweh: entborgen daheim.
"Pictures from home" erzählen melancholisch von einer verlorenen, schmerzlich vermissten Harmonie. Larry Sultan forscht weiter, addiert zu seinen Kunst-Fotos diverse Filmstills aus privaten Super-8-Aufnahmen: Familienausflüge nach Disneyland, Toben im Garten, Vater&Sohn-Innigkeit. Auch dort offenbart sich irritierend das Trügerische hinter den Kindheitsidyllen.
Larry Sultans Kunst handelt nicht nur an der Oberfläche von Amerika, sie gräbt sich tief in den amerikanischen Traum, untersucht das Dilemma von Schein und Sein - die Leerstelle Heimat. Die Bilderfolge "Homeland" (2006 - 2009) spielt am Rande von San Fernando Valley, im Niemandsland, wo die Einfamilienhaus-Vorstadt in ein verwildertes Grundstück und dieses wiederum in die ungerührt weite Natur übergeht. An diesem seinen Kindheitsort zeigt Larry Sultan Heimat definitiv als Nichtort, indem er die Mühsamen und Beladenen dort platziert: Mexikanische Tagelöhner, schamvoll hoffend, den Blick der Kamera ausweichend oder in Alltagshandlungen verstrickt, immer verloren in den üppigen Landschaftspanoramen wie aus den Pionier-Zeiten des weißen Mannes.
Nochmals konterkariert wird das Scheinheiligkeitsglück in "The Valley" (1998 - 2004). Gleich um die Ecke hinter dem Elternhaus entdeckt Larry Sultan, dass Pornoproduzenten Mittelstandsvillen mieten, um das heimelige Setting der protzig-kitschigen Wohlstandsshow für Sexfilme zu nutzen. So können sich die Besitzer dieser Häuser beim heimlichen Angucken dieser Filme gleich heimisch fühlen. Deutlicher ist die Illusion vom unbefleckten Zuhause kaum aufzuzeigen. Sultan schaut auch bei den Dreharbeiten nicht arrogant ironisch, nicht verurteilend zu, sondern scheu, emphatisch, liebevoll. Er knipst hinter Blumenkübeln hervor, beobachtet Langeweile, Müdigkeit, Feierabendfreude bei der hart arbeitenden Porno-Crew, staunt über die Kopulationsszenarien und ist ganz auf sein Thema fixiert: "Beschauliche Nachmittage werden nicht durch lärmende Kinder, sondern durch haltlose Begierden von Boten, Babysittern, Studentinnen und Polizisten gestört. Sie wälzen sich in den Schlafzimmern, treiben es auf dem Küchenfußboden miteinander, auf der Veranda und im Swimmingpool, der aussieht wie der von unserem Nachbarn oder unser eigener. Während ich das fotografiere, gerate ich ins Zentrum meiner eigenen Widersprüche - es öffnet ein weites und fruchtbares Feld zwischen Abscheu und Anziehung, Lust und Verlust. Ich bin wieder zu Hause."
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