Boulevard-Medien zur Loveparade: Die wirklich wichtigen Fragen
Reißerische Berichte, unlautere Recherche, Befriedigung allerniedrigster Instinkte - was für "Bild"-Kenner ein alter Hut ist, kann manche Leserin noch schocken.
"Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid", heißt es im Pressekodex unter Ziffer elf. Wenn man diese Richtlinie für die publizistische Arbeit wörtlich nimmt, ist Deutschlands größtes Blut- und Spermablatt kein Presseorgan. Allein, es dürfte der Bild-Zeitung herzlich egal sein, wie man sie bezeichnet, solange die Auflage stimmt. Und damit sie stimmt - das ist allweil bekannt -, werden gerne mal einige Regeln des Pressekodexes gebrochen.
Nachdem der Undercover-Reporter Günter Wallraff sich 1977 als "Hans Esser" bei der Bild-Zeitung einschleuste und, O-Ton Wallraff, "unverantwortliche Recherchiermethoden, Verfälschungen und politische Manipulationen der Boulevardzeitung" aufdeckte, sind über dreißig Jahre vergangen. Die große Ironisierphase der neunziger Jahre, in denen es auch unter linken Intellektuellen eine Zeit lang als schick galt, die Bild-Zeitung "ironisch zu lesen", ist inzwischen auch vorbei, und nun ist die Bild wieder, was sie ist.
Und was sie ist, das führt sie in ihrer Berichterstattung über die Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg par exellence vor: "Schon seit dem frühen Samstagabend hatte Bild.de in Bildergalerien notdürftig abgedeckte Tote gezeigt (,Die Hand im Tode verkrampft. Auch dieser Mann wurde bei der Panik vermutlich zerquetscht', ,Ein Foto, das Gänsehaut vermittelt - zwei Tode am Haupteingang', ,Die Leiche eines jungen Ravers liegt abgedeckt im Müll', usw. usf.)", beschrieb Lukas Heinser die Boulevard-Berichterstattung in dem Watchblog www.bildblog.de.
Am Montag machte das Blatt dann mit dem "Todesprotokoll" der Loveparade auf. Das Titelbild, ein Schnappschuss hysterischer Menschen inmitten eines Panikknäuels, wurde nur von der Bildunterschrift getoppt: "Sie schreien in Panik, in ihren Gesichtern ist Todesangst zu lesen. […] An dieser Stelle wurden später 14 Tote gefunden." Was ist das anderes als eine Einladung, die Gesichter zu studieren und sich zu fragen, wen es erwischt hat?
Auf einer Doppelseite, garniert mit Bildern Verletzter, mit Tüchern bedeckter Leichen und völlig aufgelöster Love-Parade-BesucherInnen, werden Menschen unter Schock zitiert: "Auf meinen Beinen lagen zwei Leichen!" Dazu Fotos von fünf der Opfer, die wirken, als seien sie aus dem Internet zusammengeklaut. Auf Bild.de gibt es dann noch mehr davon: Eine Slideshow mit dem Titel "Das sind die Opfer der Loveparade" zeigt besagte Porträts der Verstorbenen zu besinnlicher Fahrstuhlmusik und schneidet Aufnahmen von Rettungseinsätzen dazwischen. Ein Interview auf Seite fünf zeigt, dass es der Bild nicht nur um Tod und Verderben geht, und geht auf die wichtigen Fragen ein: "Warum sind viele der Loveparadebesucher (,Raver') oft halbnackt?" und "Welche Rolle spielen Drogen?"
Was auch immer hier bedient wird, der Wunsch nach Information und Aufklärung ist es nicht. Diese Form der geifernden Opferberichterstattung rührt an die morastigen Untiefen niederster Instinkte: Schaulust, Sensationsgier, Gaffertum. Das sich Ergötzen an einer furchtbaren Sache, der man selbst gottlob nicht ausgesetzt ist. Gern auch getarnt als Empathie und Mitleid. An den Machern der Bild sind Porno- oder Splatterfilmautoren verloren gegangen - Journalismus ist etwas anderes.
Das haben offenbar auch andere bemerkt: Der deutsche Journalistenverband rief am Dienstag zu einer sachlichen und angemessenen Berichterstattung über die Katastrophe auf. Der Grund: Beim Deutschen Presserat waren bis Dienstagmittag bereits 140 Beschwerden eingegangen - nur drei davon richten sich nicht gegen die Berichterstattung von Bild und Bild.de. Seitdem der Presserat vor eineinhalb Jahren ein Online-Formular eingerichtet hat, ist die Beschwerde niedrigschwelliger geworden, viele Leute informieren sich inzwischen per Twitter über derartige Verstöße gegen den Pressekodex und schicken sich das Formular zu. Zum ersten Mal war das nach dem Amoklauf in Winnenden im März 2009 spürbar, damals hatten sich 80 Menschen online über die reißerische Berichterstattung beschwert.
Die nächste Sitzung des Presserats ist am 14. September. Dann wird geprüft, ob die Bild-Zeitung für ihre Berichterstattung über die Loveparade gerügt wird. Aber so eine Rüge dürfte an der Bild abprallen, ist sie doch eigentlich kein Presseorgan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“