Wahlkampf in Afghanistan: Chaotisch, umkämpft und manipuliert
Am Samstag wählen die Afghanen ihr Parlament. Der Einsatz ausländischer Soldaten und Gespräche mit den Taliban waren kein Thema im Wahlkampf.
KABUL taz | Die Werbung für die Parlamentswahl in Afghanistan am Samstag - die zweite seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 - ist bunt und facettenreich. Mancher Bäcker, Schneider oder Ladenbesitzer hat ein Plakat seines Favoriten - vielleicht auch seines Schutzherren - in das Schaufenster gehängt. Wände, Straßenlampen, Verkehrszeichen in Kabul sind geradezu zugepflastert.
Versuche der Stadtverwaltung, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, bleiben ohne Erfolg. Weil nach afghanischem Wahlrecht Parteien so gut wie keine Rolle spielen, muss jeder der landsweit mehr als 2.500 Kandidaten auf sich selbst aufmerksam machen, um eines der 249 Unterhausmandate zu erringen. Davon sind 68 - vier mehr als bisher - für Frauen reserviert.
Massuma Tawassuli lässt sich deshalb im Lautsprecherwagen durch die Straßen fahren, begleitet von Motorradfahrern mit grünen Stirnbändern. Sie winkt routiniert unterm schwarzen Kopftuch aus dem offenen Seitenfenster.
Der "Meister des Sports", Chodscha Farid Sadeqi, Vorsitzender eines Kabuler Kraftsportklubs, will die "Rechte der Sportler verteidigen". Ein früherer hoher kommunistischer Geheimdienstler verspricht, "mit sauberen Händen, heißem Herzen und kühlem Kopf auf dem Weg Gottes, des Vaterlands und der sozialen Gerechtigkeit" zu streiten.
Auch im Staatsfernsehen und -radio sowie in den vielen Privatsendern läuft Spot auf Spot. Wie bei den Plakaten sind sie voller Floskeln. Von "Islam", "Frieden" und "Wohlstand" ist oft die Rede. Manchmal kommt auch das durch die massiv gefälschte Präsidentschaftswahl 2009 diskreditierte Wort "Demokratie" vor.
Brisanter ist da schon der Auftritt von Hadschi Muhammad Harun Assadi. Unter einem riesigen roten Fragezeichen auf einem zwei Stockwerke hohen Transparent fragt er provokant: "Warum wird unser Kapital ins Ausland transferiert?"
Er spielt auf den jüngsten Kabuler Bankenskandal an, bei dem die Verstrickung der Karsai-Familie mit windigen Privatbanken öffentlich wurde. Deren Emissäre hatten - ganz legal - Milliarden Dollar in die Golfemirate gebracht, waren dort in die platzende Immobilienblase geraten und sorgten in Kabul für einen Run wütender Kunden auf die Geldinstitute, die mangels der mit den Wahlen beschäftigten Polizisten von Geheimdienstlern verteidigt werden mussten.
Am Samstag wird in Afghanistan zum zweiten Mal seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 das Unterhaus (Wolesi Dschirga) gewählt: 249 Sitze, von denen 68 für Frauen reserviert sind, sind zu vergeben. Unter den etwas mehr als 2.500 Kandidaten treten rund 400 Frauen an.
Gewählt werden aber nur Personen und keine Parteien, die denn auch so gut wie keine Rolle spielen. Die Taliban haben am Donnerstag erneut die offiziell 17 Millionen registrierten Wahlberechtigten, deren wirkliche Zahl deutlich niedriger liegen dürfte, zum Boykott aufgerufen. Schon zuvor hatten die Aufständischen mit Anschlägen auf Kandidaten und Wahllokale gedroht. Bisher starben im Wahlkampf mindestens drei Kandidaten und sieben Wahlhelfer. Aus Sicherheitsgründen bleiben 15 Prozent der Wahllokale geschlossen. (han)
"Manipulation der Stimmen des Volkes ist Verrat", donnert Ahmad Tamim Rahdschab, der einzige Kandidat, der auf seinem Plakat mit Karsais letztjährigem Herausforderer Dr. Abdullah Abdullah wirbt. Natürlich hatten auch dessen Helfer im letzten Jahr manipuliert, aber weniger erfolgreich als die des Präsidenten, dessen Sieg die westlichen Regierungen dann doch anerkannten.
Abdullahs neue Oppositionsallianz "Hoffnung und Wandel", danach mit viel Vorschusslorbeeren gestartet, liegt schon wieder in Trümmern. Karsai hat wichtigen Protagonisten einfach Regierungsämter gegeben. Die wirklich wichtigen Themen werden kaum diskutiert: der Status der ausländischen Streitkräfte etwa oder mögliche Gespräche mit dem Taliban-Führer Mullah Omar.
Im direkten Gespräch nehmen die Kandidaten aber kein Blatt vor den Mund. Ahmad Behsad aus dem westafghanischen Herat, einer der Hauptkritiker des Präsidenten, sagt im taz-Gespräch, Karsai versuche "die Unterstützung der Taliban nur zu gewinnen, um seinen eigenen Machtinteressen zu dienen".
Bawar Hotak, Vorsitzender der afghanischen Bodybuilder-Vereinigung, kritisiert Karsais Friedensdschirga, die Ratsversammlung zur nationalen Aussöhnung: "Diese Leute können nicht mal Kabul verlassen, wie können sie dann ihren Job machen?"
Zum Verbleib der westlichen Truppen meint Behsad, dass "die meisten Leute zwar sagen, sie sind dagegen, letztendlich aber doch zugeben, dass sie bleiben müssen. Ansonsten ist es höchstwahrscheinlich, dass ein neues Bürgerkrieg ausbricht."
Der Kraftsportler Hotak ist noch direkter: "Wenn die nur zwei Tage weg sind, fangen alle wieder an, gegeneinander zu kämpfen." Auch in einer weiteren Frage stimmen der Paschtune Hotak und der Tadschike Behsad überein: dass bei ihren Wählern der Mangel an Arbeitsplätzen das beherrschende Thema sei. In all diesen Fragen müsste das künftige Parlament eigentlich ein gewichtiges Wort mitreden.
Doch Karsai entscheidet darüber lieber mit seinem Küchenkabinett, das aus früheren Mudschaheddinführern, ein paar Technokraten und neuerdings übergelaufenen Taliban besteht. Schon während der jetzt endenden Legislaturperiode hat der Präsident das manchmal rebellische Unterhaus in wichtigen Fragen entweder umgangen oder ausgetrickst.
Vom Unterhaus abgesehen beherrscht Karsai inzwischen alle drei Gewalten. Das Präsidialbüro und Karsai persönlich unterstellte "Unabhängige Direktorat" zogen Kernaufgaben vieler Ministerien an sich, vor allem Ernennungen für wichtige Verwaltungsposten. Ein Drittel der Senatoren verdanken dem Präsidenten direkt ihren Sitz. Er ernennt die obersten Richter - und auch die Mitglieder der "Unabhängigen Wahlkommission" (IEC).
Zumindest Abdullahs Anhänger befürchten, dass Karsai Kurs auf eine Präsidial- oder Familiendiktatur nimmt. Mit einer Mehrheit im Unterhaus könnte der Kandahari eine Loja Dschirga - eine große Versammlung - einberufen, um die Verfassung zu ändern und die Beschränkung auf zwei Amtszeiten aufzuheben. Oder einen Verwandten als Nachfolger aufbauen.
Die Politik seiner internationalen Verbündeten, "nichts Böses zu sehen, nichts Böses zu sagen" - wie ein hochrangiger früherer Wahlbeobachter kürzlich schrieb - hilft ihm, das System Karsai Schritt für Schritt zu festigen.
Denn das eigentliche Interesse der Regierungen im Westen an dieser Wahl liegt darin, dass sie es ihnen erlauben soll, Fortschritt im Prozess der "Übergabe der politischen Verantwortung" an die afghanische Regierung zu proklamieren - selbst wenn dabei Potemkinsche Dörfer aufgebaut werden müssen.
Aber selbst unter afghanischen Verhältnissen hätten bessere Wahlen organisiert werden können. "Die Zeit zwischen den Wahlen 2005 und 2009 wurde vergeudet", sagt der Chef der Beschwerdekommission für die Wahlen von 2009 (ECC), der von den Vereinten Nationen ernannte Kanadier Grant Kippen.
Die Empfehlungen zahlreicher Organisationen - von der EU über die OSZE und die großen US-Stiftungen bis zu den afghanischen Wahlbeobachtern der Free and Fair Election Foundation - blieben einfach ungehört. Auf ihre Umsetzung zu dringen aber wäre die Aufgabe der westlichen Regierungen und der UNO gewesen.
Stattdessen ließ man Karsai freie Hand. Im Ergebnis gibt es nach wie vor weder vom Präsidenten unabhängige Wahlinstitutionen noch eine einheitliche Wählerliste. Es kursieren über 17 Millionen Wählerausweise, während selbst nach Schätzung der IEC nur knapp 12,6 Millionen Wähler existieren.
Für fünf Millionen dieser Dokumente existieren also gar keine dazugehörigen Personen - ein Potenzial für Fälschungen, das schon 2009 ausgiebig genutzt wurde. In den IEC-Regularien wurde sogar der Passus gestrichen, nach dem alle Wahldokumente "dauerhaft" aufbewahrt werden müssen. Das ist geradezu eine Einladung zum erneuten Wahlbetrug.
Schon berichten afghanische Medien über Polizisten und Regierungsbeamte, die gesetzeswidrig für bestimmte Kandidaten werben - aber von der im letzten Jahr noch so aufmerksamen ECC ist nach ihrer "Afghanisierung" nichts mehr zu hören.
Kein Wunder: In manchen Provinzen haben ihre Mitarbeiter weder Telefone noch Computer oder Fahrzeuge, um Beschwerden nachzugehen. Und sie müssen laut neuen Richtlinien auch gar nicht mehr nach Kabul berichten, ob sie nach Beschwerden etwas unternehmen und wenn ja, was.
Kein Wunder, dass das Interesse der Afghanen an diesen Wahlen gering ist. Daran ändern auch die vielen bunten Plakate nichts. Die Menschen sorgen sich, was passiert, wenn der Westen seine Ankündigungen wahrmacht und seine Soldaten abzieht, bevor das Land auf einem positiven Weg ist.
Wie soll das gehen, fragt sich etwa der Karsai-Kritiker Ahmad Behsad, wenn "die Regierung in Korruption versinkt" und der Westen nur mit immer mehr Geld nach den Problemen wirft und die Wahl am Sonnabend lediglich als seine politische Abschiedsvorstellung vom Hindukusch betrachtet.
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