Theater: Entscheidend ist der Kostenfaktor
Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg erlebt bittere Zeiten: Erst tritt der Intendant wegen Kürzungen zurück, dann fallen die Kürzungen noch deutlich höher aus, als zunächst angenommen. Auch bei der Premiere von "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg" machen die Mitarbeiter ihrer Wut Luft.
Regisseur Volker Lösch markiert eine Wende beim Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (DSHH). Intendant Friedrich Schirmer, der seinen Posten Mitte September überraschend aufgab, hat lange gesucht nach einem Profil für die Bühne. Mit Löschs gesellschaftskritischem, ästhetisch innovativem Theater fand er es.
Als Lösch Peter Weiss "Marat/Sade" im Oktober 2008 umbaute und neu deutete, provozierte die Inszenierung eine Diskussion, die weit über den Kreis der Theaterfreunde hinausging. Arme Hamburger verlasen auf der Bühne die Namen reicher Mitbürger samt ihrem vermuteten Vermögen.
Die damalige Kultursenatorin Karin von Welck sah sich deshalb genötigt, gegen den Regisseur und ihren Intendanten Stellung zu beziehen. Sie nahm die Reichen in Schutz ("Wohltäter!"), räumte indessen ein, es sei nicht ihr Amt, Inszenierungen abzusetzen. Schirmer hielt zu seinem Team, zumal seine Bühne Dank der Inszenierung ein interessantes scharfes Profil im Konkurrenzverhältnis zum Thalia Theater gewann.
Bundesweit Kritik ausgelöst haben die Sparbeschlüsse in der Hamburger Kultur. Der Deutsche Kulturrat sprach von einem "Kultur-Harakiri" und forderte eine Kehrtwende. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) wandte sich gegen die Schließung von Museen und forderte, dass auch in Krisenzeiten die Kultur nicht unter die Räder kommen dürfe.
Schließen soll nach den Plänen des Hamburger Senats das Altonaer Museum.
Auf Geld verzichten müssen Bücherhallen.
Einschnitte in Höhe von 1,2 Millionen Euro hinnehmen muss das Schauspielhaus.
Ausbaden wird die Kürzungen im Schauspielhaus der kaufmännische Geschäftsführer Jack Kurfess. Er wird das Haus zusammen mit dem künstlerischen Leitungsteam in der gesamten Spielzeit 2011/2012 leiten. Intendant Friedrich Schirmer war Mitte September zurückgetreten, weil er Kürzungen nicht akzeptieren wollte.
Insofern lag es nahe, anzunehmen, konservative Politiker disziplinierten Schirmer, indem sie seiner Bühne Geld wegnähmen. Schirmer hatte wegen der Unterfinanzierung seines Hauses sein Amt zur Verfügung gestellt, da war der Öffentlichkeit noch gar nicht bekannt, wie viel das DSHH nach dem Willen des neuen Kultursenators Reinhard Stuth (CDU) einsparen sollte. Erst war von 330.000 Euro die Rede, zurzeit sind es 1,2 Millionen. Früher wurden Einsparungen für die Staatstheater auf die drei Häuser Oper, Thalia und Deutsches Schauspielhaus verteilt, jetzt soll das DSHH alles tragen. Viele DSHHler sind wütend, auch wenn sie keine inhaltlichen Gründe für den Mittelentzug unterstellen, sondern meinen, der neue Kultursenator sei (nur?) schlecht unterrichtet.
Jetzt hat Lösch wieder in Hamburg inszeniert. Seine Uraufführung von "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg" am Samstag floss fast umstandslos über in einen Protest vieler Bühnenangehöriger gegen die drohenden Mittelverluste. Es gab großes Einverständnis, viel Beifall - von der Bühne fürs Publikum, vom Publikum für die Protestierenden auf der Bühne. Die etwas schiefe und nicht ganz glücklich gewählter Parole lautete: "Ich bin das Schauspielhaus." Alle gaben sich kampfbereit - ein frischer Hauch von Stuttgart 21 vertrieb den Muff aus dem plüschigen Zuschauerraum.
Hauptdarsteller von "Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg" sind 20 Kinder der Gesamtschule Hamburg-Mümmelmannsberg. Gleich zu Anfang beklagen sie im Chor, ihre Chancen auf Arbeit oder Ausbildung schwänden, wenn sie offenbarten, woher sie kommen: "Mümmelmannsberg" ist keine gute Adresse.
Der Text ist Ergebnis von Interviews, die mit den Kindern, Eltern und Lehrern geführt und dann weiter bearbeitet wurden - das bewährte Verfahren von Volker Lösch.
Marion Breckwoldt spielt die egoistische Stiefmutter, die dem Vater rät, sie sollten die Kinder im Wald "vergessen", damit zwei Mäuler weniger zu stopfen wären. Das Brot reiche hinten und vorn nicht. Eine verwegene Behauptung.
Marion Breckwoldt nutzt ihre massive Körperlichkeit, um ihre schauspielerischen Zwecke zu erreichen: Sie spielt eine fette, voll gefressene Egoistin, die zu allem bereit ist, nur nicht, abzugeben. Als Neoliberale erblickt sie im Kind vor allem den Kostenfaktor.
Lösch und sein Ensemble entfernen sich vom Märchen und seinen Figuren, sobald es ihnen wegen der Aktualität geboten erscheint - das Hexenhäuschen ist eine hell leuchtende und blinkende Disco, die die Kinder über die wahren Absichten der Hexe hinwegtäuschen soll. So gelingt Lösch und seiner Crew, die enorme subversive Kraft des Grimmschen Märchens in Erinnerung zu rufen: Die Hexe trachtet den Kindern nach dem Leben. Nur der Geistesgegenwart und Tatkraft von Gretel ist es zu verdanken, dass sie überleben. Gretel muss die Hexe in den Ofen stoßen, damit sie Hänsel befreien kann.
Die professionellen Darsteller um die brillante, bitterböse Marion Breckwoldt spielen die Gegner der Kinder. Am besten kommt die Szene über die Rampe, in der Breckwoldt in wallendem Abendkleid und drei ihrer Mitstreiter in Frack "Murat" eingeladen haben. Offenbar stellt die Aktrice, trotz des körperlichen Gegensatzes, eine wohlbekannte Arbeitsministerin dar.
Die feinen Leute überhäufen in einer Art Wohltätigkeitsgala den wohl Zwölfjährigen mit Geschenken, die er nicht haben will. Der Junge kommt nicht zu Wort, die Dame und die drei Herren bestimmen, was für ihn richtig ist - ein sarkastischer Kommentar zur Diskussion, wie Hartz IV-Kindern Gerechtigkeit widerfahren soll. Die Wohltaten auf Karte können nicht vergessen machen, was Kinder wirklich brauchen: eine solide Ausbildung und gut bezahlte Arbeitsplätze. Löschs Satire nimmt die Anmaßung von Politikern aufs Korn, Entscheidungen für andere zu treffen, sie zu entmündigen und um berechtigte Ansprüche zu bringen.
Die ästhetische Entscheidung, die Kinder aus Mümmelmannsberg von ihnen selbst spielen zu lassen, erweist sich als tragfähige Säule von Löschs aufklärerischer Wirkungsstrategie und seinem überzeugenden Realismuskonzept. Der Ton des Chors ist laut, aggressiv, anklagend, der Zorn, die Wut sind groß.
Sie wurden gleich überführt in den Protest - der gleiche Zorn, die gleiche Tonlage. Der neue Hamburger Kultursenator, der nicht zur Uraufführung gekommen war, wurde mehrfach angesprochen - der Protest hatte eine Facette der Enttäuschung. Der Senator spielt offenbar nicht die Rolle, die Kulturpolitiker oft gespielt haben - grundsätzlich der Anwalt der Interessen der Bühnenleute in der Regierung zu sein. Stattdessen vertritt der Neue ohne diplomatische Watte die Politik seines Bürgermeisters Christoph Ahlhaus (CDU), der sparen will.
Schirmer hat mit seinem Amtsverzicht ein Fanal gesetzt: Ein Bühnenleiter kann nicht redlicher handeln. Jetzt wird ein neuer gesucht, der mit dem verminderten Geld bereit ist zu wirtschaften. Ein Kultursenator, der so eifrig Sparvorgaben exekutiert, wird Intendanten berufen, die Opportunisten sind. Nicht mehr die besten Künstler werden sich bereit finden, sondern Leute, die sich überschätzen, wie das zuletzt beim Theater Bremen der Fall war.
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