die wahrheit: Google auf Westfälisch

Eltern Street View. Unser Digitaldorf soll schöne neue Welt werden.

Bis in den allerletzten Winkel des abgelegensten kleinen Dorfes würde Google am liebsten vordringen. Bild: ap

Neulich war ich bei meinen Eltern zu Besuch, in Ostwestfalen. Kleinbonum quasi. Ich schaute aus dem Fenster, und in dem Moment fuhr ein Auto mit einem komischen Dachaufsatz vorbei. Google Street View in Kleinbonum? Ich setzte mich verdattert und blätterte im Tageblatt. Und stieß sofort auf einen Artikel, in dem es hieß, Google habe "im Vorüberfahren" nicht nur Fotos geschossen, nicht nur Straßenzüge gefilmt, sondern auch unverschlüsselte Mails und Passwörter aufgezeichnet. Was so eine Kamera inzwischen alles kann! Vielseitiger als ein Schweizer Messer. Bald funktioniert die auch noch als Pürierstab. "Im Vorübergehen" hatte eine Tochter von Freunden, als sie ein Deo kaufte, auch einen Lippenstift mitgenommen. Das nannte der Drogeriemarkt dann Ladendiebstahl.

Passworte? Unverschlüsselte Mails? Ich sprang auf, stellte sofort mein Handy aus und schaltete den Laptop ab. Mitten in der beschaulichen ostwestfälischen Provinz erfuhr ich, Google ist nicht nur draußen vor der Tür, sondern auch drinnen! Google-Street-Röntgen-View. Erst sollten ein paar große Städte gefilmt werden, dann ganz Deutschland. Heute Berlin, morgen Hamburg, übermorgen, also jetzt, Kleinbonum. Nun soll unser Dorf nicht schöner, sondern gesendet werden. Meine Eltern. Die Nachbarn. Alle. Sogar meine Tanten. Jedenfalls ihre Häuser.

"Kiek eis, Google Street View!", sagte ich auf Platt, und zeigte hinter dem Wagen her, der gerade wieder vorbeifuhr und nun scheinbar die andere Straßenseite filmte. Wobei es für Google Street View keine plattdeutsche Entsprechung gibt. "Watt von Wu?", fragte meine Mutter. "View, nicht Wu. Getz führt de oll bi us dür datt Dorp." Jetzt fahren die schon bei uns durch das Dorf! "Wer führt hier rümme?", fragte meine Mutter. Wer fährt hier rum? "Hebt gi datt nich e läsen?" Habt ihr das nicht gelesen? "Watt?" - "Google Street View. De filmt de Hüser." Die filmen die Häuser. "Worümme datt denn?" Wieso das denn? "De könnst du dann in düssen Internet seien." Die kannst du dann im Internet sehen. "Dor verstoh ik nix van." Da verstehe ich nichts von. "Habt ihr denn keinen Widerspruch eingelegt bei Google? Die senden euer Haus." - "Weit ik nix van", sagte mein Vater. Weiß ich nichts von. "Ok usete?", fragte meine Mutter erstaunt. Unseres auch? "Jau. Süht ganz so ut. De führt hier rümme." Sieht ganz so aus. Die fahren hier rum. "Da gibt es aber schönere im Dorf", sagte meine Mutter.

Womöglich kann man sich das nicht vorstellen, aber meine Eltern haben kein Internet. Dass ihre Söhne sich "Emils" hin und her schicken, wissen sie, haben aber keine Vorstellung, wie das vor sich geht. "Mama, wie ein Telefongespräch, aber nicht mit Worten, sondern mit Buchstaben." - "Buchstaben? Durch die Telefonleitung?" - "Jau." - "Is mir zu hoch!" Verstehe ich. Ich könnte auch nicht erklären, wie das funktioniert. Platinen, Daten, Digitales. Ich habe sie dann gegoogelt, und meine Mutter hat keinen einzigen Treffer! Meine Eltern gehören zu den vermutlich letzten Menschen, über die im Internet nichts zu finden ist.

Ich hatte meinen Eltern vor ein paar Jahren einen gebrauchten Computer geschenkt. Ich weiß noch, wie mein Vater fast täglich anrief: "Hör moal. Sech eis, hier, mit düssen … Düvelskasten." Hör mal, sag mal, hier mit diesem Teufelsgerät. Sie haben dann sogar an einem Senioren-Computerkurs im Gemeindehaus teilgenommen, aber das lief alles zu schnell ab für sie, denn beide hatten nie vor einer Tastatur gesessen, allein das Fingerkreisen auf der Suche nach o, a und u nervte beide. Der Computer war schnell in Duisburg, weil das Gerät von meinem Bruder im Eimer war, er gerade pleite - und meine Eltern rührten das Ding sowieso nicht an.

Wie sollen meine Eltern Widerspruch gegen Google einlegen, wenn sie nicht mal wissen, dass es Google gibt? Und meine Eltern sind nicht allein. Es gibt bei uns im Dorf ein paar Hundert, und in Deutschland sind es Millionen Menschen, die immer noch analog im Lexikon blättern, statt Wikipedia aufzurufen, wenn sie etwas wissen wollen.

"In der Zeitung steht, die nehmen auch Mails und Passwörter mit", las ich vor. "Van mi ut!", sagte meine Mutter. Von mir aus. "Emils hab ich keine, und meine Geheimzahl für die EC-Karte steht im Telefonverzeichnis. Das müssten die schon aufschlagen, um das abfilmen zu können. Aber die kommen mir nicht ins Haus. De blievet buten!" Die bleiben draußen.

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kari

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