Runder taz-Tisch zur Integration: "Die Atmosphäre ist total vergiftet"
Ein Streitgespräch zwischen Erika Steinbach, Naika Foroutan, Neco Celik und Thomas Brussig über Heimat, "Leitkultur" und die Schwierigkeit, als gleichberechtigter Bürger anerkannt zu werden.
Sind Ostdeutsche eigentlich gut integriert? Lässt sich die Lage vieler Vertriebener, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik kamen, mit der Situation von Flüchtlingen aus dem Iran oder der von türkischen Gastarbeiterkindern vergleichen?
Zu diesen Fragen lud die taz vier ExpertInnen ein: die Vertriebenensprecherin schlechthin, Erika Steinbach; die Politologin Naika Foroutan, deren Eltern aus dem Iran geflüchtet waren; den Schriftsteller Thomas Brussig, einen Kenner ostdeutscher Gemütszustände der Nachwendezeit, sowie Neco Celik, Regisseur aus Berlin und bekennender Kreuzberger.
Frau Steinbach, Frau Foroutan, Herr Brussig, Herr Celik: Was ist Heimat für Sie?
Erika Steinbach: Meine Mutter. Das habe ich aber erst bemerkt, als sie gestorben war. Vorher war ich eher heimatlos.
Naika Foroutan: Für mich ist Heimat der Rosenthaler Platz. Dort bin ich zu Hause.
Thomas Brussig: Ja, das ist so ein Ort, da hat man so dieses Berlingefühl. Aber Heimat ist auch ein sehr missbrauchter Begriff, weswegen ich mich lange gegen so etwas wie Heimatgefühle gesträubt habe.
Neco Celik: Auf meinen Reisen ins Ausland bekomme ich immer bestätigt: Ah, du bist Deutscher. Und dann kommst du nach Hause, und du wirst wieder mit dieser ganzen Integrationssoße zugeschüttet. Ich lasse es deshalb lieber noch offen.
Frau Steinbach, Sie haben ja auch einen Migrationshintergrund. Und die Vertriebenen wurden nach dem Krieg in vielen Gegenden auch nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Ist Ihnen das Gefühl vertraut, von den Alteingesessenen ausgegrenzt zu werden?
Steinbach: Ich bin eine Zwangsmigrantin, wenn diese Vokabel überhaupt auf deutsche Vertriebene zutrifft. Aber das Gefühl der Ablehnung kennen wir. Meiner Mutter wurde in Schleswig-Holstein gesagt, als sie nur etwas Milch für mein sehr krankes kleines Schwesterchen wollte: "Ihr seid ja schlimmer als die Kakerlaken." Es hat sie bis zu ihrem Lebensende verfolgt, dass die eigenen Landsleute so etwas zu ihr gesagt haben. Trotzdem war die Situation völlig anders, weil wir dieselbe Sprache sprachen und dieselbe Kultur teilten: also Goethe, Schiller, all das. Wir waren ja ein Volk, wie man es in der DDR am Ende so schön sagte.
Herr Brussig, sind wir ein Volk? Nach dem Mauerfall wurden die Unterschiede zwischen Ost und West deutlich. Fühlten Sie sich nach der Vereinigung fremd im neuen Deutschland?
Brussig: Ja und nein. Die Westdeutschen waren schon irgendwie anders. Die hatten eine ganz andere Grandezza, einen ganz anderen Auftritt, ein ganz anderes Selbstbewusstsein. Da gab es diesen schönen Witz: Man braucht im Westen dreizehn Jahre zum Abitur, weil da ist ein Jahr Schauspielunterricht dabei. Also, der trifft das ganz gut.
Steinbach: Habe ich noch nie gehört. Merke ich mir.
Brussig: Deutschland muss sich erst noch daran gewöhnen, "Deutsch" vorbehaltlos für vieles gelten zu lassen. Und ich frage mich, wie lange Ossis noch als Ossis gesehen werden. Ich denke, das wird so lange dauern, bis sich die sozialen Unterschiede eingeebnet haben, was Vermögensverteilung oder Arbeitslosigkeit betrifft. Auch bei der Besetzung von Führungspositionen in der Wirtschaft ist das Gefälle noch groß.
Celik: Ich glaube nicht, dass sich das ändern wird, wenn ich sehe, dass wir heute immer noch über dieses Thema sprechen und so ein Buch wie das von Sarrazin das ganze Land zum Wackeln bringen kann. Plötzlich haben alle etwas gegen Menschen mit Migrationshintergrund, was auch immer das sein soll. Und die Wessis werden auch immer über die Ossis herziehen.
Foroutan: Gerade in diesen Zeiten der Globalisierung halten viele aber auch für sich selbst an einer bestimmten Form von Identität fest, ob das nun "Ossi", "Wessi" oder das Vertriebenensein ist. Wir führen viele Interviews mit jungen Leuten mit Migrationshintergrund. Da gibt es immer mehr, die sich mit Stolz als "muslimisch" oder "türkisch" bezeichnen und das auch überhaupt nicht tauschen wollen gegen ein "Deutschsein".
Die CDU-Politikerin Erika Steinbach wurde 1943 bei Danzig im heutigen Polen geboren. Seit 1998 ist sie Präsidentin des Bunds der Vertriebenen. Sie lebt mit dem Dirigenten Helmut Steinbach in Frankfurt a. M.
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Naika Foroutan ist Politologin und leitet an der Humboldt-Universität zu Berlin das Forschungsprojekt "Heymat" über "Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle". Sie wurde 1971 geboren.
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Der Regisseur Neco Celik lebt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in Berlin-Kreuzberg. Mit Filmen und Theaterinszenierungen wie "Schwarze Jungfrauen" (2006) ist er bekannt geworden.
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Der Schriftsteller Thomas Brussig wurde 1964 im damaligen Ostberlin geboren. Nach der Wende machte er sich mit Romanen wie "Helden wie wir" oder "Sonnenallee" einen Namen. Er lebt in Berlin.
Und Sie selbst?
Foroutan: Ich persönlich bezeichne mich gern als Deutschiranerin oder als "iranischdeutsch". Das sind beides Teile meiner Identität.
Steinbach: Ich glaube, die Unterscheidung zwischen Ossis und Wessis wird sich auswachsen. Bei den Zuwanderern wird sich das aber nicht so schnell auflösen. Da gibt es die, die sich diesem Land zugehörig fühlen, in guten wie in schlechten Zeiten. Das ist sicher der überwiegende Teil. Und da sind die, die erkennbar nicht mitmachen, die sich abgrenzen. Das macht vielen Menschen Angst und führt zu den Debatten, die Sie, Herr Celik, jetzt beklagt haben. Aber Sie, Frau Foroutan, werden nie Probleme haben: jemand, der so gut die Landessprache spricht und einfach mitmacht.
Foroutan: Das stimmt so ja nicht. Untersuchungen zeigen, dass bei gleicher Leistung und bei gleicher Qualifikation die Bewerber, die einen herkunftsdeutschen Namen haben, meist eher zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden als solche mit Migrationshintergrund. Und viele haben es satt, dass man ihnen einfach nur aufgrund ihres Phänotyps immer wieder die Frage stellt: Woher kommst du? Man beginnt sich dann zu fragen: Ist man nur dann deutsch, wenn man blond ist?
Steinbach: Davon gibt es gar nicht so viele, wie man glaubt.
Foroutan: Umso verwunderlicher, dass diese Frage noch so häufig gestellt wird! Deutschland ist ja schon längst plural. Gerade in Frankfurt!
Steinbach: Über hundert Nationen haben wir da.
Foroutan: Sie haben vor allen Dingen 72 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund. Da kann man Deutschland gar nicht mehr in urtümlichen, homogenen Strukturen denken - weil es das in vielen Gegenden einfach nicht mehr gibt. Dieses Bewusstsein und Gefühl dafür, das müssen wir erst noch erlernen, alle.
Steinbach: Ich glaube allerdings, dass die Mehrheit der originären deutschen Bevölkerung ein gemeinsam tradiertes, kulturelles Fundament teilt und daran festhalten möchte: Das ist unsere Literatur, unsere Sprache.
Uns scheint, dass Sie das Moment der gemeinsamen deutschen Kultur viel zu stark gewichten. Haben Konservative und Linksliberale denn so viel gemein? Und liest die Unterschicht nicht eher die Bild-Zeitung als Heinrich Böll?
Foroutan: Und die meisten Ossis sind zum Beispiel überhaupt nicht religiös …
Steinbach: Ja, aber auch die Ossis feiern Weihnachten und Ostern. Und ich mache es auch nicht allein an der Religion fest, sondern an der Kultur. Für mich hat das ein großes Gewicht. Ich glaube sogar, dass uns das über die politische Trennung Deutschlands hinweggeholfen hat. Deutsche Musik etwa, ob das nun Brahms, Beethoven oder Mendelssohn ist. Das war und ist ein starkes, verbindendes Element. Orientalische Musik dagegen kenne ich wenig …
Mozart hat Sie integriert …
Steinbach: Ja, allerdings in westlicher Tonalität. Und es gibt ja auch wunderschöne Literatur, die aus dem Orient kommt. Ich habe als junges Mädchen liebend gern "Tausendundeine Nacht" gelesen - natürlich in der Kindervariante. Da passen Sie, Frau Foroutan, wunderbar hinein: So habe ich mir eine Prinzessin aus "Tausendundeiner Nacht" immer vorgestellt.
Celik: Und ich bin Aladin oder was? Also wir haben auch eine Ahnung von Mozart, Schiller und Goethe. Ich werde 2013 sogar Mozart inszenieren.
Steinbach: Ja, Sie leben ja auch schon eine Weile hier.
Celik: Nicht eine Weile. Ich bin hier geboren. Und die Mehrheit von uns lebt seit über 40 Jahren hier. Aber so wird das leider nicht diskutiert.
Steinbach: Ich glaube schon, dass es so diskutiert wird. Aber es gibt einen Bereich, der den Menschen eben Sorge macht, der sie ängstigt. Und ich halte es auch nicht für Ausgrenzung, wenn man sich für seinen Mitmenschen interessiert und ihn fragt, wo er herkommt, wenn er etwa einen Akzent hat. Da bin ich immer neugierig: Wo kann ich den einordnen, liege ich da richtig? Bei Ihnen, Frau Foroutan, würde ich nie fragen: An Ihrem Deutsch merkt man, Sie sind hier aufgewachsen.
Foroutan: Ich werde trotzdem täglich gefragt. Täglich.
Celik: Hinzu kommt, dass wir hier in Deutschland gerade mal wieder kübelweise mit Schmutz übergossen werden.
Steinbach: Ach nein, die Migranten hier werden doch nicht mit Schmutz übergossen. Die aktuelle Debatte dreht sich doch nur um einige wenige.
Foroutan: Na ja, um die Muslime.
Brussig: Doch, Frau Steinbach, das stimmt. Die Atmosphäre ist vergiftet.
Celik: Total vergiftet.
Steinbach: Ich glaube, dass manche Migranten auch etwas überempfindlich auf Dinge reagieren, die gar nicht so gemeint sind, und dass sich dann die Empfindlichkeiten gegenseitig aufschaukeln. Gerade aus dem muslimischen Bereich gibt es ja auch viele, die sagen: Wir müssen sehr wachsam sein gegenüber diesen Integrationsverweigerern, die sich ihre Gattinnen ja ganz bewusst aus dem tiefen Anatolien holen.
Celik: Wo liegt denn das Problem, wenn man seinen Ehepartner aus Anatolien holt, solange das freiwillig geschieht?
Steinbach: Das arme Wurm darf dann auch wieder nicht Deutsch lernen und bleibt in der Wohnung eingesperrt.
Foroutan: Die können doch gar nicht mehr nach Deutschland rein, bevor sie nicht den A2-Deutschtest gemacht haben.
Celik: Sie diskutieren diese Einzelfälle, als ginge es um alle.
Steinbach: Nein, ich sage ja, das ist nur ein kleiner Teil. Aber dieser kleine Teil, der ängstigt.
Brussig: Nein. Mit seinem Titel "Deutschland schafft sich ab" spielt Sarrazin doch nicht auf eine Minderheit an. Deutschland wird sicher nicht durch eine kleine Minderheit abgeschafft. Nein, Sarrazin hat höher gezielt. Und das, woran sich dann so viel entzündet hat, ist etwa, dass er wertvolle Schwangerschaften gegen Schwangerschaften gestellt hat, die uns auf Dauer alle teuer zu stehen kommen werden. Mit dieser Rechnung, einer typischen Volkswirtsrechnung, hat er einen Tabubruch begangen.
Foroutan: Die Integrationsverweigerung wird außerdem einseitig einer bestimmten Gruppe und einer bestimmten Kultur zur Last gelegt. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Mein Mann ist Rechtsanwalt und hatte in letzter Zeit mehrere Fälle in Neuruppin. Jedes Mal, wenn er von dort wiederkommt, ist er zerschmettert: Von den ganzen Integrationsverweigerern deutscher Herkunft, die es dort gibt. Von Vergewaltigung, Drogen, Kriminalität, Mord.
Er könnte ja nach Hause kommen und sagen: Na ja, die Ossis, die sind ja ganz schön kulturell verwahrlost. Aber das erschiene ihm absurd. Bildungsferne, Kriminalität, Gewalt in der Ehe - all das gibt es überall auf der Welt. Aber in der gegenwärtige Debatte wird gesagt: Das kommt aus dem Islam.
Steinbach: Sie haben völlig recht: es gibt auch unter den seit Generationen einheimischen Deutschen welche, die unwillig sind, eine Berufstätigkeit aufzunehmen, selbst wenn sie es könnten, und lieber die Hand aufhalten. Da muss man genauso ansetzen.
Foroutan: Es gibt ja in Deutschland leider nun mal keine Vollbeschäftigung und Arbeit für jeden.
Ist es nicht so, dass ein bestimmtes Milieu, das man früher Lumpenproletariat genannt hätte, nun einfach sehr stark von Migranten geprägt wird?
Foroutan: Es gibt ja auch vieles, was nicht mit dem Faktor Kultur zusammenhängt. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut hat etwa Gruppen von Migranten untersucht, die ursprünglich aus der Türkei stammen. Er hat festgestellt: In Oldenburg zählen prozentual wesentlich mehr zu den Bildungsaufsteigern, wohingegen in bestimmten Gebieten von Dortmund nur ein minimaler Anteil zu diesen bildungsaffinen Gruppen gehören. Und das liegt ja dann vielleicht doch eher an der Politik der Stadt Dortmund und an der Politik der Stadt Oldenburg als daran, dass es sich um Muslime handelt.
Steinbach: Möglicherweise hängt es auch daran, woher die Menschen gekommen sind? Wenn die nun alle aus dem tiefsten Anatolien kamen?
Foroutan: Nein, die Vergleichsgruppen sind gleich. Nur gibt es in Dortmund stark segregierte Stadtviertel, und in Oldenburg leben die Menschen über die ganze Stadt verteilt.
Steinbach: Das ist immer besser. In dem Moment, wo man eine Art Getto entstehen lässt, produziert man fahrlässig Probleme. So ist es offenbar in Berlin geschehen. In Frankfurt haben wir das zum Glück nicht im gleichen Ausmaß.
Celik: Ich stelle mir gerade vor, Frau Steinbach, wir beide wären arbeitslos und würden uns in einer Schlange vor der Arbeitsagentur treffen und ins Gespräch kommen. Und Sie würden zu mir sagen, dass es nicht in Ordnung ist, dass ich arbeitslos sei und mich an den Transferleistungen bediene. Weil ich einen Migrationshintergrund habe. So kommt mir das gerade vor.
Sie meinen, das Problem ist die Arbeitslosigkeit, nicht die Herkunft?
Celik: Genau. Aber stattdessen wird gesagt: Eine kleine Gruppe von euch, die holt sich ihre Frauen aus Anatolien, und das macht die Situation dann schlimm für uns alle.
Herr Brussig, sind Sie froh darüber, dass das Ossi-Bashing durch das Muslim-Bashing abgelöst wurde? In den neunziger Jahren wurden Ossis ja auch verantwortlich gemacht für alles, was schieflief im Osten: für Rechtsextremismus, Wendeverlierer, soziale Verwahrlosung.
Brussig: Klar, dass sich die Dummen nun ein neues Thema suchen. Und ich erkenne bestimmte Argumentationsmuster in der aktuellen Debatte wieder. Deshalb haben die hier lebenden Deutschen mit türkischem oder arabischem Namen mein vollstes Mitgefühl. Aber ich glaube, es kann auch jederzeit wieder zum Ossi-Bashing zurückkommen.
Steinbach: Aber die Bayern und die Preußen, die sind auch übereinander hergezogen! Und zwar ziemlich drastisch.
Brussig: Das ist aber etwas anderes, weil es eben nicht mit dieser Degradierung von Lebenschancen einhergeht. Und das ist nun mal der Fall, wo wir nach wie vor ein gravierendes Ost-West-Gefälle haben und wo es auch keine gleichen Chancen für Deutsche mit Migrationshintergrund gibt. Deswegen ist diese Studie mit den zwei Bewerbungen, die eine mit einem türkischen Namen und die andere mit einem deutschen Namen, eine gravierende Sache. Die Witze, die dann gemacht werden, sind genau deshalb auch so verletzend: weil sie eine Herabsetzung spiegeln, die ja im wirklichen Leben auch stattfindet.
Steinbach: Was halten Sie denn von anonymisierten Bewerbungen? Wir haben das ja im Bereich der Musik. Bei manchen Orchestern wird es so gehandhabt, dass derjenige, der zur Probe vorspielt, hinter einem Vorhang verborgen ist: Man kann ihn nicht sehen, und dann wird nur nach Qualität ausgewählt. Was halten Sie davon?
Foroutan: So etwas finde ich notwendig. Diese Generation ist hier aufgewachsen, hier sozialisiert und hat das deutsche Schulsystem durchlaufen mit Goethe, Schiller und Heine - also genau dem, was Frau Steinbach als den kulturellen Kern Deutschlands beschreibt. Können Sie nachvollziehen, dass diese Generation im Grunde genommen genau das gleiche empfindet wie damals viele Vertriebene, die hier nicht akzeptiert wurden, obwohl sie sich doch als kulturell gleich empfanden. Diese dritte Generation scheitert immer wieder daran, sich unhinterfragt zugehörig zu fühlen. Und nicht nur daran!
Steinbach: Aber immer und überall? Ich erlebe das in Frankfurt anders.
Foroutan: Na ja, zumindest bei 53 Prozent. Das ist schon sehr viel. Bei 53 Prozent der Mehrheitsgesellschaft, das ergeben Befragungen des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung, lässt sich das Moment des "Etabliertenvorrechts" finden - also dieses Gefühl, dass derjenige, der zuerst da war, mehr Rechte haben sollte. Man fragt sich nur, wann endet das Zuerst-da-gewesen-Sein? Wann der Migrationshintergrund? Juristisch wäre das nach der dritten Generation. Aber phänotypisch bleibt das haften. Und wenn Sie dunkelhäutig sind, dunkelhaarig, dann wird Ihnen immer wieder abgesprochen, gleichberechtigte bei der Teilhabe zu sein.
Steinbach: Das wird sich auch auflösen. Das ist ein Prozess.
Celik: Ich bin da sehr skeptisch. Mein Sohn, der ist acht Jahre alt, hatte neulich ein Fußballspiel. Und da sagte ein deutscher Junge: Müssen wir jetzt gegen die Türken spielen? Mein Sohn spielt bei einem Kreuzberger Verein. Und wenn wir dann zu einem Spiel in die Außenbezirke fahren und man sieht, was da für eine negative Energie herrscht, das ist teilweise unerträglich. Durch solche Debatten wie um Sarrazin wird das genährt. Es wird ja nicht besser, sondern schlimmer. Das ist das Problem.
Können Sie verstehen, dass Sarrazin - oder zumindest diese Debatte, die er mit seinen Thesen ausgelöst hat - vielen Leuten Angst macht?
Steinbach: Das kann ich verstehen. Aber ich glaube, dass die deutsche Gesellschaft und die deutsche politische Klasse über Jahrzehnte hinweg auch zu blauäugig gewesen sind und die Probleme verdrängt haben. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie die CDU sagte, die Kinder müssen in der Schule Deutsch sprechen können, die müssen auch identische Umgangsformen haben. Wir sind dafür an unseren Informationsständen bespuckt worden, man sprach von Zwangsgermanisierung. Heute ist es quer durch die politische Klasse Konsens, dass es in der Schule eine einheitliche Sprache geben muss. Der Lehrer verzweifelt ja sonst.
Die Union hat sich sechzehn Jahre lang geweigert, die Einwanderer als Einwanderer anzuerkennen. Erst mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht, das die rot-grüne Koalition im Jahr 2000 eingeführt hat, hat sich das schließlich geändert. Das war doch ein Fortschritt, oder nicht?
Steinbach: Ich weiß nicht, ob das ein Fortschritt ist. Wenn sie volljährig sind, müssen sie sich ja für eine Staatsbürgerschaft entscheiden - die deutsche oder die ihrer Eltern. Das ist durchaus konfliktträchtig.
Wäre es Ihnen denn lieber, sie würden gleich Deutsche?
Steinbach: Nein. Ich glaube nur, dass es für einen jungen Menschen schwer ist, so eine Wahl zu treffen. Und dass es da stark auf die Familie ankommt, wie er sich am Ende entscheidet.
Foroutan: Oder auf das politische und gesellschaftliche Klima, das seine Entscheidung mit beeinflusst.
Wie könnte eine moderne deutsche Leitkultur aussehen, die es Einwanderern leichter macht, sich mit Deutschland zu identifizieren?
Steinbach: Wir brauchen gar nicht nach einer Leitkultur zu suchen. Wir haben schon eine. Die Leitkultur dieser Mehrheitsgesellschaft gründet auf dem christlichen Abendland, auch wenn heute nicht mehr alle Christen sind. Sie ist durch unsere Sprache, unsere Literatur, unsere Musik definiert. Dadurch werden wir, ob wir wollen oder nicht, in unseren Befindlichkeiten geleitet.
Celik: Ich werde dadurch nicht geleitet.
Brussig: Es ist unsere freie Entscheidung, wodurch wir uns leiten lassen. Und es ist ja nicht so, dass uns nichts passieren kann, nur weil wir Goethe und Beethoven intus haben.
Steinbach: Da kann sehr viel passieren, einschließlich Adolf Hitler …
Brussig: Ja eben, deshalb ist mir das auch zu wenig. Ich würde deshalb sagen, dass zu unserer Leitkultur auch eine gewisse Offenheit gehören sollte. Das würde ich auch aus der Tradition heraus ableiten - etwa von dem Preußenkönig, der da einst sagte, es möge hier ein jeder nach seiner Fasson glücklich werden.
Steinbach: Friedrich der Große.
Brussig: Genau. Oder wie meine Mutter sagt: Jedem Tierchen sein Pläsierchen.
Steinbach: Das ist die Volksvariante.
Brussig: Ja, und die halte ich für tragfähig. Wie tragfähig dagegen das Christentum als Leitkultur ist, weiß ich nicht. Ich bin kein Christ und fühle mich hier trotzdem wohl. Auch wenn ich nicht über jede Debatte immer so glücklich bin.
Was tun wir, damit Deutschland sich nicht abschafft?
Steinbach: Deutschland wird sich nicht abschaffen. Es ist ein vielfältiges Land und ein sehr schönes dazu. Wir müssen uns nur darauf besinnen, was unsere Stärken sind. Dazu gehört auch, dass wir konsequent angehen, was wir als Problem erkannt haben. Mit aller Fürsorge, aber auch mit aller Beharrlichkeit.
Foroutan: Wir sollten diesen paternalistischen Blick auf Migranten ablegen. Ich glaube, wir müssen endlich damit anfangen, allen Bürgern dieses Landes eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewähren. Und lieber den Blick darauf werfen, was wir alle gemeinsam für dieses Land tun müssen in Zeiten globaler Unsicherheiten. Weil wir dieses Land in all seiner Vielfalt genauso als unser Land betrachten wie Sie.
Steinbach: Klingt gut.
Brussig: Ich weise nur darauf hin, dass der Name Sarrazin darauf hindeutet, dass seine Familie auch noch nicht seit Karl dem Großen oder Otto dem Ersten dabei war, sondern auch irgendwann dazugekommen ist. Und wenn wir das, was der Familie Sarrazin widerfahren ist, eben auch den hier lebenden Familien Samadi oder Atatürk angedeihen ließen, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.
Celik: Ich wünsche mir, dass die Politiker sich eindeutig zu uns bekennen und deutliche, positive Signale senden. Damit wir zusammenwachsen können. Sonst wird das ein Nebeneinander, kein Miteinander.
Steinbach: Was inszenieren Sie eigentlich demnächst von Mozart?
Celik: Die "Entführung aus dem Serail".
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