BEGEGNUNG: Winterreise zu einer anständigen Esserin
Welche große Schriftstellerin rennt schon einem Maultier hinterher? Ein Ausflug zu Karen Duve
Jedes Mal, wenn ich Karen Duve lese, kommt diese Ungeduld auf, mich gleich hinzusetzen und mit dem Schreiben noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Ich kann es immer nicht begreifen, wenn jemand nicht begeistert von Büchern ist, die mir gefallen, wie kann man dann noch befreundet sein? Meine Duve-Exemplare sind voller Anstreichungen, weil sie so viele Sätze formuliert, die man sich in ein Deckchen sticken möchte. Männer kommen bei ihr natürlich nicht so gut weg, die männliche Präsenz im Leben einer Frau lässt sich knapp bilanzieren: "Sein Körper schob sich wie ein Sargdeckel über mich."
Karen Duve wohnt also neuerdings in Ost-Brandenburg, und ich soll sie dort besuchen. Als Nächstes schreibt sie noch einen Roman über die Region und kommt mir damit zuvor, meine West-Kollegen projizieren ja neuerdings ihre Amerikasehnsucht auf die östliche Provinz. Und jetzt sitzt die Duve praktisch schon im Oderbruch, wo ich gerne leben würde, wenn ich mir zutrauen würde, ein Haus instand zu halten.
Wie schafft sie das? Ich liebe doch ihre Heldinnen, weil sie so sympathisch antriebslos und den Forderungen des Tages nicht gewachsen sind. Wer wie die Erzählerin in "Taxi" aus seiner Wohnung nicht ausziehen kann, weil er nicht weiß, wie man den Papierkram erledigt, bleibt auch jahrelang mit seinem Freund zusammen, weil eine Trennung zu anstrengend wäre. Und genau auf diese Weise spült doch das Leben seine Schlacke in unsere Biografien. Es ist ja sowieso hoffnungslos: "Wenn du dir von einem Mann eine Kassette aufnehmen lässt, erfährst du mehr über ihn, als wenn du mit ihm schläfst."
Erinnerungen an Lambada
Der Osten kam bei ihr kaum vor, und sie tut auch nicht so, als hätte sie sich je dafür interessiert: "Ein junges Pärchen machte sich kichernd an dem Scheibenwischer eines Trabants zu schaffen. Erst dachte ich, sie wären dabei, den Scheibenwischer abzubrechen, aber im Vorbeifahren sah ich, dass sie bloß einen Snickers darunter klemmten." So knapp und treffend hat sonst niemand die Wiedervereinigung beschrieben. Ich bringe ihr "Das Pferdemädchen" mit, einen Defa-Kinderfilm zum Weinen. Oder ist das eine Beleidigung?
Ich habe Panik, wie einer der Männer aus ihren Büchern zu wirken, zum Beispiel Rüdiger in "Taxi", der immer bunte Suhrkamp-Bücher liest und es versteht, jedes Gespräch darauf zu bringen, wie gemein die Frauen sind, "ein Hemmschuh für die Geistwerdung des Mannes". Die ganze Fahrt über konzentriere ich mich darauf, so wenig wie möglich wie ich zu sein.
Lass nie Journalisten ins Haus! Natürlich schreiben sie lieber über deine Wohnung als über deine Texte, das ist ja auch viel einfacher. Meine Wohnung ist aber nur eine Notlösung, ich will seit Jahren umziehen, ich bin lediglich nicht in der Lage, den Papierkram zu erledigen. Erwähnen sie die schönen Bilder, die ich mit viel Überlegung an den Wänden angebracht habe? Die vielen Gegenstände, die Werbung für meine Identität machen? Im Übrigen haben sie auch nie die Bücher gelesen. Wenn ich die Duve wäre, würde ich mich nicht reinlassen.
Der taz-Kritiker fand "Taxi" misslungen, vor allem den Schluss, bei dem die Liebhaberin von Primatenbüchern in ihrem Taxi mit einem von ihr entführten Schimpansen Richtung Afrika rast, wo er ihr zeigen soll, wie man Schlafnester in Dschungelbäumen baut. Und der FAS-Kritiker fand bei "Dies ist kein Liebeslied" nur die ersten beiden Seiten gut, die ich am schwächsten fand. Mich stört aber auch falsch begründetes Lob, wenn der SZ-Kritiker sie dafür preist, dass sie sich noch an Lambada erinnert. Wer erinnert sich denn nicht an Lambada? Meine ganze Armeezeit lief das Lied täglich über den Kasernenfunk, und das war in der DDR. Ich bin wie Rüdiger, ich verstehe es, jedes Gespräch darauf bringen, wie dumm alle anderen sind.
Erst einmal muss ich ein fragiles System von Anschlusszeiten recherchieren und drei Stunden mit S-Bahn und Bus durch Winterlandschaften reisen, weil ich kein Auto habe. Ich wusste gar nicht, was für kleine Orte in diesem Land von Bussen angesteuert werden. Am S-Bahnhof Ostkreuz locke ich mit meinen Kekskrümeln ungewollt Tauben an, der eine Spatz ist einfach zu langsam. Aber dann fliegt er mit einem Brocken im Schnabel hinter ein Drahtgitter, durch das die Tauben nicht passen. Dieser schöne Backstein-Bahnhof wird gerade abgerissen, demnächst soll er endlich auch nach Bundesrepublik aussehen, also wie ein Einkaufscenter. Ich überlege, ob es im Osten schon Tauben gab oder ob die aus Westdeutschland eingeschleppt worden sind, wie die Motten in den Kaschmirpullovern.
Soll ich sie anrufen und fragen, ob der Bus von Strausberg fährt, von Strausberg-Stadt oder von Strausberg-Nord? Nein, man kann doch einen Schriftsteller nicht einfach so anrufen, vielleicht hat er gerade einen Gedanken. Ich tippe auf "Strausberg". Schaufelbagger machen sich dort zu schaffen, überall wird geschippt, die Menschen wollen unbedingt mobil bleiben. Der Bus kommt pünktlich und braucht eine halbe Stunde, um jeden Winkel des Strausberger Neubauviertels abzufahren. Friedrich-Engels-Straße, Ernst-Thälmann-Straße, Otto-Grotewohl-Straße. Am Stadtrand weisen Schilder auf einen "behindertenfreundlichen Wanderweg" hin.
Der Bus ist voller Schüler, die aber nicht gewalttätig wirken. Ihr Deutschlehrer sei schon vierzig. "Der redet immer so, als hätte er ditt selbst miterlebt. Hat er ja ooch." Hinter mir tauschen sich die Jungs über Pornos und eklige Youtube-Filme aus, in denen jemand auf einer Wiese voller Kuhfladen Topfschlagen spielt. Sie überbieten sich mit skurrilen Pornofilmtiteln: "Unser Skatclub sticht alles". Da zeigt sich doch immerhin ein grundsätzliches Interesse an Sprache, darauf sollte der Deutschlehrer aufbauen. In manchen Dörfern steigen Schüler aus und stapfen zu den Häusern ihrer Eltern. Mit dem Schulbus in die Kreisstadt, für mich ist das keine exotischere Lebensweise als in "Unsere kleine Farm".
Fahrgäste, diese Schweine
Inzwischen bin ich mir sicher, wir sind tatsächlich voriges Jahr mit dem Auto meines Vaters durch den Ort gekommen, in dem Karen Duve lebt, wenn das kein Zeichen ist. Wir waren unterwegs zum ehemaligen Atombunker Harnekop, wo ich auf einem DDR-Trödelmarkt einen Stapel wundervoller Ersttagsbriefe gekauft habe, u. a. einen von 1975, von der Apollo-Sojus-Kopplung. Man muss sich ja immer rechtfertigen, wenn man sich für so etwas interessiert. Mein neuer Kummer sind die klobigen, gusseisernen Zäune, die sich jetzt alle in Polen kaufen, um damit ihre zu DDR-Zeiten improvisierten Zäune zu ersetzen, die leider nicht unter Denkmalschutz stehen.
Einen Schlenker machen wir noch über ein Nachbardorf, aber ich bleibe allein im Bus. Busfahrer möchte ich nicht sein, einerseits ärgert man sich über die Fahrgäste, andererseits ärgert man sich vielleicht auch, wenn man umsonst fährt. "Die Fahrgäste, diese Schweine", sagt die Heldin in "Taxi", da musste ich laut lachen, wie so oft bei Karen Duve.
Der Bus fährt davon, und ich stehe auf einem Dorfplatz und überlege, wie meine Überlebenschancen wären, wenn ich zurücklaufen müsste und den behindertenfreundlichen Wanderweg nicht finde. Zum Glück habe ich das Gelände im Internet studiert, man kann aber keine drei Schritte gehen, ohne angesprochen zu werden. "Na, eine Winterwanderung?" Der Mann tritt an seinen Gartenzaun, und ich muss ihm sagen, zu wem ich will. Die Hausnummer reicht ihm aber nicht, erst als ich "Frau Duve" sage, darf ich weitergehen. Womöglich hält er mich für einen Wessi!
Ich muss am Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr vorbei, mit einer Jahreszahl in der Wetterfahne, da müsste ich dann auch mitmachen, wenn ich hier leben wollte, Feuerwehr, Posaunenchor oder Anglerverein, man kann sich nicht bei allem ausschließen.
Die schöne Feldsteinkirche, da ist es jetzt bestimmt kalt drinnen. Bei meinen Eltern stellte sich immer so eine feierliche Stimmung ein, wenn sie so etwas sahen: Guckt mal, eine Feldsteinkirche!
Ob ich hier richtig bin? Eine Pferdekoppel, ein Auto mit Hundenetz, das muss es eigentlich sein. Sie gehört ja zu den auffällig zahlreichen Autorinnen, die sich riesige Hunde halten. Das Ungetüm von Juli Zeh hat sich mal bei einer Lesung auf meinen Fuß gelegt. Bei "Adler und Engel" hätte man durch Streichung von Hundestellen leicht hundert Seiten sparen können. Es öffnet niemand. Räumfahrzeuge haben die Einfahrt zugeschüttet, Probleme, die man in der Stadt nicht kennt. Schnee ist nicht geschippt, wenn ich jetzt stolpere, kann ich die Hausbesitzerin verklagen. Am Ende von "Im tiefen Schnee ein stilles Heim" befindet sich die Heldin Anita Dams (diese herrlichen Namen!) in einem vollständig eingeschneiten Haus in Sicherheit vor ihrem Verehrer Johann Köpfli. Es ist eine Erzählung, die man Satz für Satz auswendig lernen möchte. Wer debütiert schon mit einem Klassiker?
Hoffentlich ist die Duve nicht genauso kompliziert wie ich. Am liebsten würde ich umkehren. Dieses Porträt ist doch eine Schnapsidee. Wenn es eine Berufsgruppe gibt, die sich nichts zu sagen hat, dann sind es Autoren. Sie kennen nie die Bücher vom anderen, und wenn, dann geben sie es nicht zu. Hinter jeder freundlichen Bemerkung darf eine Bosheit vermutet werden. Am schlimmsten sind Autoren, die mit einem Bücher tauschen wollen. "Ich muss meine aber bezahlen." "Ich meine doch auch." Aber ich will dein Drecksbuch nicht!
Eine Frau in Gummistiefeln kommt um die Ecke, und meine Nervosität verfliegt sofort, ob ich erst mal eine Führung will? Sie lässt mich also wirklich rein? Der Hühnerstall hat eine Jalousie mit Zeitschaltuhr und ist mit Sägespänen ausgestreut, so schön habe ich es bei mir nicht. Hoffentlich verdirbt das den Hühnern nicht den Charakter.
Esel verführt Stute
Wir gehen erst einmal das Maultier ausführen, und ich registriere lauter Details aus "Anständig essen", das ich gerade gelesen habe, so funktionierte auch "Shakespeare in love". Die Kette über dem Nasenrücken des Tiers, die leider nötig ist. Reiten will sie es eigentlich nicht mehr, diese Kultur kommt ihr inzwischen fragwürdig vor. Es gebe Tierfreunde, die ihre Pferde nur noch mit dem Fahrrad ausführen.
Weil ein Köter bellt, reißt sich das Maultier los, auch das habe ich schon gelesen, es muss eingefangen werden, weil es sonst im Löschteich einbricht, dann müsse man die Feuerwehr holen. Na, die ist ja nicht weit. In einer romantischen Winterlandschaft folge ich einer großen deutschen Schriftstellerin, die einem Maultier hinterherrennt. Anschließend schmiert sie dem Tier gegen "Strahlfäule" Honig in eine Hufritze. Der Huf ist ja der Zeigefinger, erfahre ich.
Was ein Maultier ist, das kann man nicht so leicht erklären. Dieses ist ein Weideunfall, da hat ein Esel eine Stute verführt. Die Realität so eines Tierleibs, das ist für mich immer noch eine elementare Erfahrung. Wir lieben beide "Der Doktor und das liebe Vieh", da können wir keine schlechten Menschen sein. Und sie hat gleich zwei sympathisch große Fernseher im Haus. Ich kaufe mir so was allerdings nicht, sonst würde ich gar nicht mehr schreiben.
Ich muss mir gar keine Sorgen machen, zu viel zu reden, sie hält gut dagegen. Dass ich große Teile meines Weltwissens von "Tim & Struppi" habe. Ob es das denn im Osten gab? Da ist sie wieder, diese erstaunliche Ahnungslosigkeit meiner westlichen Altersgenossen. Natürlich nicht, das kam im Paket. Ging denn das? Ich freue mich im Grunde über diese mangelnden Kenntnisse, das heißt ja, dass meine Bücher notwendig sind. Sascha Lobo hält sie für einen Ossi, wegen des Vornamens. Sascha Lobo für einen Ossi halten, das kann nur ein Wessi.
Die Wende habe sie nicht bewusst mitbekommen, weil sie zu viel mit sich zu tun hatte, das ging mir allerdings genauso. Wenn man sein Leben lang fürchtet, etwas Interessantes zu verpassen, weil alles nur über Hörensagen läuft, ist man mit einer Maueröffnung überfordert.
Sie streite sich immer mit ihren Nachbarn über die DDR, denen sei irgendwas abhandengekommen durch die Wende, Strauß habe mit seinem Kredit die DDR in die Pleite getrieben, behaupten sie. Leider kann ich nicht hinter jedem Ossi herlaufen und den Unsinn berichtigen, den sie erzählen.
Es sei aber schon besser jetzt als in der DDR, oder? Über diese Frage, die mir regelmäßig gestellt wird, muss ich vielleicht noch zwanzig Jahre nachdenken. Ist es nicht selbstverständlich, dass mein Leben Jahr für Jahr besser wird? Und, ja, ich konnte mir nach der Wende endlich nach Herzenslust AC/DC-Aufnäher kaufen.
Manche Stellen in "Anständig essen" haben mich an meinen DDR-Geschichtsunterricht erinnert. Die Auseinandersetzungen der Arbeiterbewegung wiederholen sich bei der Befreiung der Tiere. Bernsteinismus, der Revisionismusstreit in der SPD: soll man sich für bessere Lebensbedingungen in der industriellen Landwirtschaft einsetzen, oder wird damit nur die Notwendigkeit einer Revolution verschleiert?
Im Küchenkalender sind die Tage markiert, an denen der "gelbe Sack" rausmuss, das gibt dem Alltag Rhythmus. Ob sie eine Putzfrau hat? Mein Blick wandert über die vielen kleinen Gegenstände, die Werbung für ihre Identität machen. Wie hat sie das alles renovieren und einrichten können? Das ist doch eine Lebensaufgabe. Die bunte Tapete, sorgfältig gerahmte, kitschige Pferdebilder, die aber, aus ihrem üblichen Kontext gelöst, reizvoll wirken. Im Gästezimmer liegen die ausgestopften Tiere, von denen am Ende vom Buch die Rede ist, ein richtiges Krokodil. Da sie nun schon vegane Schuhe trägt, will sie die abschaffen, aber begraben kann sie sie nicht, weil sie voller Gift seien.
Sie habe als Schülerin um drei Uhr morgens in einer Fabrik aufrollbare Hundeleinen montiert und nach der Schule wieder, um sich Dinge kaufen zu können. Ich erinnere mich noch, wann diese bemerkenswerten Leinen bei uns im Neubaugebiet auftauchten, die interessierten mich mehr als die Hunde. So anders sind wir gar nicht aufgewachsen, Sachen wie Hundeleinen in Fabriken herstellen, das war bei uns ein Unterrichtsfach.
Warum entschuldigt sie sich dafür, sich für Geld zu interessieren? Ich rechne doch auch täglich durch, wie viel ich noch brauche, um von den Zinsen leben zu können. Außerdem wusste ich doch immer, wie meine neuen Landsleute sind. Mein Cousin aus Hamburg hat als Kind zu Besuch bei uns mal eine Flaschenpost aus der Flasche gepopelt, als er erfuhr, dass es dafür Pfand gab. Im nächsten Jahr wollte er von drüben eine Einwegflasche mitbringen und die Post damit abschicken. Jetzt ist er bei Shell und hat im Gegensatz zu mir ein Haus. Trotzdem ist er der Meinung, die Zeit von Ost und West sei doch wohl vorbei.
Ich muss dauernd aufs Klo, der viele Tee. Eine riesige Quietscheente starrt mich im Bad an. Bei jedem Klogang nehme ich mir vor, weniger zu reden. Mit manchen Menschen hat man aber sofort so viele Anknüpfungspunkte, dass man von Bismarck zu den Preiselbeeren kommt. Etwas sehr Lustiges ist ihr mit einem bekannten Autor passiert, zu dem ich weitere Peinlichkeiten beisteuern kann, aber das darf ich natürlich wieder nicht schreiben.
Ich würde gerne bleiben, Hühner füttern, Maultiere anfassen, auf gigantischen Bildschirmen "Breaking bad" gucken. Aber bevor ich die Frage stellen kann, ob ich hier einziehen darf, werde ich zurück nach Strausberg gefahren. Unsere Wege trennen sich wieder, wir müssen weiter Bücher schreiben, also Bäume umbringen. Der Weg zum Bahnhof ist viel zu kurz. Ich könnte mich ewig so durch die verschneite Nacht chauffieren lassen, von einer ehemaligen Taxifahrerin, auf einem beheizten Beifahrersitz. Ich habe es warm und bequem, alles ist gut.
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