Kommentar Arabische Revolution: Das Morgenland wacht auf
Der Westen steht ratlos vor dem Umbruch in der arabischen Welt. Er muss seine außenpolitischen Interessen und Werte besser in Einklang miteinander bringen.
D ie außenpolitischen Reaktionen des Westens auf den politischen Umbruch in Ägypten waren deprimierend. Von den westlichen Politikern der ersten Reihe traute sich niemand, Mubarak offen zum Rücktritt aufzufordern und die Demokratiebewegung zu unterstützen: das blieb allein dem türkischen Premier Erdogan vorbehalten. Auch das D-Wort wurde tunlichst vermieden und durch den vagen Begriff der "Reform" und des "geordneten Übergangs" ersetzt, der sich das Mubarak-Regime stellen müsse. Ein klares Bekenntnis zur Demokratiebewegung hätte anders ausgesehen.
Die Ratlosigkeit über die westliche Außenpolitik bleibt. Wie kann es sein, dass die westlichen Industriestaaten über Jahrzehnte einerseits Demokratie predigen und andererseits mit ihren Militär- und Wirtschaftshilfen zugleich das Überleben von Regimes wie in Tunesien, Ägypten oder andernorts sichern? Wieso führt man in Ländern wie dem Irak oder Afghanistan einen Krieg, während man sich dann höflich zurückhält, wenn es darum geht, einem Regime wie dem eines Mubarak den letzten Stoß zu versetzen?
Demokratieexport mit Waffen
KAI HAFEZ ist Professor an der Uni Erfurt. Bis Ende Januar war er als Gastprofessor in Kairo und bei den ersten Protesten auf dem Tahrir-Platz dabei. Zuletzt erschien von ihm: "Heiliger Krieg und Demokratie" (Transcript Verlag, 2009).
Gegenwärtig konkurrieren in der westlichen Außenpolitik zumindest drei Schulen miteinander. "Realisten" stellen das nationale Interesse in den Vordergrund. "Neokonservative", in deren Sinne George W. Bush agierte, suchen nationale Interessen notfalls auch mit militärischen Mitteln durch einen Demokratieexport zu erreichen. Ihre Mittel mögen aus humanitärer Sicht oft kritikwürdig sein, ihre Überzeugungen allerdings basieren zumindest teilweise auf einem positiven Menschenbild: alle Menschen sind zur Demokratie fähig!
Letzteres haben sie mit jenen liberalen Anhängern eines humanitären Interventionismus gemein, die nicht zuletzt bei den deutschen Grünen und in anderen Parteien zu finden sind. Sie sehen die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Intervention für die Werte von Menschenrechten und Demokratie in bestimmten Fällen als gerechtfertigt an und verurteilen den eiskalten Realismus einer rein nationalstaatlichen Interessenpolitik.
An den USA lässt sich am deutlichsten ablesen, wie der Westen in den letzten Jahrzehnten zwischen "realistischer" und "neokonservativer" Außenpolitik hin- und herpendelte. Während US-Präsidenten wie Bill Clinton sich mit fast jedem Diktator arrangierten, leitete sein Nachfolger George W. Bush einen Paradigmenwechsel ein, als er den Diktator Saddam Hussein stürzte. Es darf allerdings angenommen werden, dass dabei eigentlich sehr "realistische" US-Interessen an irakischem Öl und der Eindämmung Chinas im Hintergrund standen.
Von Roosevelt bis Obama
So gesehen, knüpft US-Präsident Obama mit seiner zögerlichen Distanzierung von Mubarak nur an eine lange Tradition amerikanischer Interessenpolitik an, die sich schon im 19. Jahrhundert weigerte, den europäischen Revolutionären zur Hilfe zu kommen. Der Einsatz der USA im Zweiten Weltkrieg war eher die Ausnahme von der Regel, Roosevelt sei Dank. Seitdem ist die Kluft zwischen wertorientierter Rhetorik und interessenorientiertem Handeln in der westlichen Außenpolitik frustrierend groß.
Eine Ausnahme bildete nur die Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts, bei der zumindest versucht wurde, Werte und Interessen in Einklang zu bringen. Aber ist die Flucht in die Nostalgie die einzig denkbare Alternative?
Vieles spricht dafür, dass wir in Nordafrika und Nahost erst am Anfang einer neuen "Welle der Demokratisierung" stehen. Um beim nächsten Aufstand bessere Antworten parat zu haben, müssen wir nach konzeptionellen Antworten auf diese Situation suchen. Mehrere Eckpunkte gilt es dabei zu beachten.
Erstens, die Werte: der diplomatische Umgang mit Diktaturen lässt sich im Interesse des Weltfriedens kaum vermeiden, auch nicht die begrenzte Kooperation mit solchen Regimes. Nötig ist zugleich aber eine kritische Distanz, die sich in praktischer Politik niederschlägt. Hier hat die EU etwa die Demokratieförderung in Nordafrika über Jahrzehnte lang völlig vernachlässigt. Es wäre gefährlich und würde die Welt in Chaos stürzen, würden wir keine anderen politischen Systeme als die Demokratie gelten lassen. Diktaturen dürfen aber auch nicht erst durch den Westen überlebensfähig werden.
Sicherheit und soziale Frage
Zweitens, die Sicherheit: Es ist ein Irrglaube, dass Diktaturen für Stabilität sorgen. Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien sind der breeding ground des islamistischen Terrorismus. Diktaturen sind in aller Regel unfähig, die sozialen Probleme zu lösen, die viele Nicht-Industriestaaten zu politischen Pulverfässern machen und die an der Wurzel des Flüchtlingsproblems liegen. Zwar haben auch Demokratien oft Schwierigkeiten mit der sozialen Frage, sie führen jedoch untereinander kaum Kriege.
Drittens, die Wirtschaftsinteressen: Unsere wirtschaftspolitischen Interessen müssen sich diesem politischen Primat beugen. Auch arabische Demokratien wollen Erdöl verkaufen, den Preis regelt der Weltmarkt. Keine Angst also vor dem Freiheitsbedürfnis anderer! Allerdings müssen unsere wirtschaftliche Beziehungen partnerschaftlich ausgerichtet sein, was sie heute häufig nicht sind.
Während etwa Europa seine Produkte überall im Nahen Osten verkauft, bestehen gerade für Agrarimporte aus arabischen Ländern in die EU zum Teil noch Beschränkungen. Auch die deutsche Entwicklungspolitik, die staatliche wie die der politischen Stiftungen, gehört überprüft, die Demokratieförderung muss auch hier aufgewertet werden.
Viertens, die Kultur: Es gilt einzugestehen, dass die Demokratie das beste politische System für komplexe moderne Gesellschaften darstellt. Die von Samuel Huntington in seinem Theorem von "Kampf der Kulturen" aufgestellte These und im Westen weit verbreitete Ansicht, außereuropäische Kulturen - insbesondere in der islamischen Welt - seien demokratieresistent, ist Unsinn.
Die Türkei und Indonesien sind die größten Gegenbeispiele dafür, und Umfragen und Studien aus arabischen Ländern belegen das seit langem. Doch die westliche Angst vor "dem" Islam sitzt so tief, dass sie die westliche Außenpolitik oft davon abhält, das Richtige zu tun.
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