: Kampf der modernen Gesellschaft
Eine Gruppe deutscher Sozialwissenschaftler lässt in ihrer Studie die zu Wort kommen, die sich gern krumm arbeiten würden, aber keine Stelle haben. Unsere flotten Ruck-Rhetoriker sollten dieses Buch lesen
VON ROBERT MISIK
Wenn alle Illusionen verloren sind, dann kommt der Moment der schonungslosen, ungeschminkten Wahrheiten. „Eben so dahinvegetieren so. Grad so über die Runden kommen“, antwortet Herr Baila, ein arbeitsloser Industriearbeiter, auf die Frage des Interviewers, welche Ziele er denn noch so habe. „Sonst … wüsst ich nicht, was ich da noch groß Ziele haben sollte“, meint Baila, gerade 50 geworden. Herr Baila ist an dem Punkt, an dem nicht einmal mehr die Fassade aufrecht erhalten wird.
Aber die Folgen von Erfahrungen des Scheiterns, die Spuren von prekärem Leben, vom Nichtgenügen gegenüber den eigenen Imperativen äußern sich nur in Extremfällen auf diese Weise. Die Gestalten, die das Leiden an der Gesellschaft annimmt, sind vielfältiger. In dem Band „Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag“ versucht ein Kollektiv engagierter Sozialwissenschafter, die Vielfalt des Elends zu protokollieren.
Zwölf Jahre ist es her, seit der Soziologenkreis um Pierre Bourdieu die viel beachtete Studie „Das Elend der Welt“ vorlegte – sie ist das Vorbild des nunmehrigen Unternehmens, das die Methodik der verstehenden Forschung auf Deutschland anwendet. Mit Franz Schultheis – der gemeinsam mit Kristina Schulz die Herausgeberschaft besorgte – ist ein Wissenschafter federführend, der in den Jahren vor Bourdieus Tod zu dessen engsten Mitarbeitern zählte.
Zu Wort kommen Zeitarbeiter, Migranten, Gymnasiallehrer, Hauptschuldirektoren, prekäre Wissensarbeiter, Künstler, Bergleute, abgewickelte Ost-Intellektuelle, Sozialhilfeempfänger, kleine Bauern und Landarbeiter, Proletariat und Subproletariat: ein Panorama der gesellschaftlichen Realitäten des heutigen Deutschlands.
Das Leben dieser Menschen ist ein Kampf. So unterschiedlich die Aussichten derer, die zu Wort kommen, auch sind, so sind sie doch die Protagonisten oder, wenn man so will, die Opfer der Kampfesstimmung, die die heutige Gesellschaft durchzieht. Was immer man studieren mag, hat Diedrich Diederichsen einmal formuliert, es ist immer eine Abart von BWL. Man könnte das allgemeiner formulieren: Was immer man heute leben mag, es ist immer eine Abart von BWL. Das Resultat: Stress.
Die Ansprüche an ein gutes Leben steigen und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen ihren eigenen Ansprüchen nicht genügen. Während die moderne Betriebswirtschaft, die avancierten Managementtheorien und der gesamte Komplex gesellschaftlicher Anrufung postuliert: „Sei kreativ“, „verwirkliche dich selbst“, scheitern die meisten an diesem Imperativ. Das schafft schlechte Stimmung. Eine Angestellte im Supermarkt stellt sich der Aussicht, Jahrzehnte Regale zu schlichten und an der Kasse zu sitzen, fragt „auf der anderen Seite halt auch, ob mich das auch ausfüllen würde“. Ihre Ansprüche, in ihrem Leben etwas sinnvolles zu tun, kollidieren mit den Zwängen und Realitäten ihrer Aussichten.
Das unterscheidet die Supermarktkassierin nicht mehr grundsätzlich von Künstlernaturen und Intellektuellenexistenzen. Der Anspruch, etwas Besonderes, Außerordentliches zu leisten, war früher Privileg einer kleinen Kaste, die hatte aber auch eine gute Chance, diesen zu verwirklichen. Heute ist der Anspruch verallgemeinert, die Chance, ihn zu bestehen, geringer geworden – in allen Milieus.
„Ein Modell“, sagt eine promovierte Literaturwissenschaftlerin ohne Aussicht auf eine Stelle, sei, „dass man einen Brotjob hat und versucht, den möglichst zu reduzieren, aber davon eben lebt, und dass man versucht, in der Zeit, die man sonst hat, die Dinge zu machen, die einem eigentlich wichtig sind. Und ich kenne immer mehr Leute übrigens, die so arbeiten.“ Doch ist der „Wunsch eigentlich immer noch da, eine Arbeit zu finden, mit der ich mich doch identifizieren kann“.
Der Beruf gibt Identität, man ist, was man beruflich ist, wer seine Stelle verliert, verliert mehr als nur Einkommen und Auskommen. Mit dem postfordistischen Arrangement, dem Anspruch, sich voll einzubringen in die berufliche Tätigkeit, hat die Arbeitsreligion sogar noch an Macht gewonnen. Gleichzeitig werden die Stellen rar, bei denen das noch möglich ist, und wer sie hat, muss viel ihm Kauf nehmen: längere Arbeitszeiten, intensivere Arbeit, Mobilität, Umzüge, Pendeln.
Bemerkenswert die Selbstauskünfte eines ehemaligen Uran-Bergmannes aus der DDR, der heute in der Schweiz Tunnel gräbt. Er ist einer, der es geschafft hat – der sich auch noch den alten Facharbeiterethos erhalten hat, den Kick inklusive, wenn er nach einer Sprengung buchstäblich Neu-Land betritt. Alle drei Wochen fährt er nach Hause zur Familie.
Die flotten Ruck-Rhetoriker sollten das lesen: Wie viele Leute bereit sind, viel zu investieren und viel zu opfern, um das bisschen Respekt und Selbstrespekt zu sichern, das mit erfüllenden Tätigkeiten und einem anerkannten Platz in der Welt verbunden ist. Die einen arbeiten sich krumm, die andern akzeptieren Einkommen, von denen man eigentlich nicht leben kann.
Denn wer aus diesem Rahmen fällt, für den hat die Gesellschaft nur die vielen kleinen, gravierenden Kränkungen bereit, mit all den Folgen: Lebensängste, Selbstzweifel. Man tut alles, um den Weg zum Sozialamt hinauszuzögern. „Es ist, als würden sie sagen: ‚Dann verlier ich den Rest von Würde‘“, wie das eine Berliner Psychiaterin formuliert. Sie hat viel zu tun – mit Leuten, die der Einbruch von Arbeitslosigkeit in ihr Leben schwer krank machte, oder mit Leuten, denen die Zunahme des Arbeitsdrucks auf die Gesundheit schlägt.
Armut breitet sich an den Rändern aus, Brüchigkeit und Versagensängste wachsen aber in die Mittellagen hinein. Die öffentlichen Diskurse mit ihrem Mantra – Eigenverantwortung fördern, Hängemattenmentalität bekämpfen etc. – sind auch eine Form der Nichtachtung, mit psychischen Folgen bei denen, auf die sie abzielen.
Diese Menschen einmal selbst sprechen zu lassen, ist empirische Sozialforschung at its best, aber doch auch eine eigene Form von politischem Engagement, von eingreifender Forschung. So schreiben die Autoren schon in der Einleitung: „Die Nichtbeachtung und Nichtachtung dieser Menschen zu durchbrechen und ihre Würde zu achten, ist dieses Buch geschrieben worden.“
Franz Schultheis/Kristina Schulz (Hg.): „Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag“. UVK, Konstanz 2005, 591 Seiten, 29 Euro