die wahrheit: Sexy Zauberzunge

Die aufgeplusterte Redewendung "nichts weniger als". Eine Sprachkritik.

Häuptling Blabla spricht mit gespaltener Zunge, seit er sich bei einem Zungenbrecher verheddert hat. : ap

Eine Folge der Massengesellschaft ist, dass sich infolge des zigmillionenstarken Drucks nicht nur die Leute einander angleichen, sondern auch ihr Reden: Die immergleichen Phrasen stehen für die immergleichen Zustände parat. Andererseits stellt der dauernde konformistische Druck jeden vor die Aufgabe, einen Rest an Individualität zu bewahren. Man kann dann zum Beispiel, um sich von der Masse abzuheben, hippe Anglizismen benutzen. Umgekehrt besteht eine Möglichkeit für Angehörige der gebildeten Stände, sich sprachlich herauszuputzen, darin, alte Wörter und Wendungen wieder in Umlauf zu bringen.

"Germanistik finden viele sexy", sagt der Göttinger Literaturdozent Christoph Jürgensen über das nur scheinbar erstaunliche Interesse an seinem eigentlich staubtrockenen Fach. Doch es ist in alten Mären wunders viel geseit, und manches Wunder kann noch den Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts schmücken. So sind die Studenten in altersgrauen Romanen und Dramen auf eine Redewendung gestoßen, die trickreich anmutet und, weil sie anspruchsvoll wirkt, auch den Sprecher nichts weniger als niveauvoll scheinen lässt. Glauben sie jedenfalls.

"Seit einigen Tagen wirbt Günther Jauch für nichts weniger als die Freiheit", schreibt die taz über des Fernsehmoderators Einsatz für eine schulpolitische Kampagne, bei der es um die Gleichstellung von Ethik und Religion als Wahlpflichtfächer ging. Der Spiegel beschließt eine lobende Rezension von Jochen Schimmangs Roman "Das Beste, was wir hatten" mit dem Urteil, er sei "nichts weniger als ein Epochenroman. Ein Lesevergnügen." Der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth behauptet in einem Interview: "Aufgabe der Schulen war für Humboldt nichts weniger als allgemeine Menschenbildung."

Was wollen die Leute sagen? Nichts weniger als das, was sie sagen. Nur haben die Leute im Medienzirkus anscheinend keine Zeit, über das, was sie reden und schreiben, nachzudenken; sonst würden sie vielleicht herauskriegen, dass "nichts weniger als" die Kurzform ist von "nichts ist es weniger als". Was nichts weniger als richtig ist, ist also am allerwenigsten richtig: Es ist völlig falsch. Genau wie der Gebrauch dieser Phrase in den drei Zitaten, es sei denn, die taz wollte Jauch als entschiedenen Feind der Freiheit bezeichnen. Damit das nichts weniger als klar ist!

Man sollte meinen, dass in Literaturverlagen mehr Zeit zum Denken ist, mehr Zeit auch zum Nachdenken über Sprache, doch die Wahrheit entspricht nichts weniger als dem Klischee. "Erwarten Sie nichts weniger als ein Wunder, wenn Sie Ann Patchett lesen", warnt Piper vor seiner neuen, offenbar sehr langweiligen Autorin. "Es ist nichts weniger als die Stimme einer neuen, ganz außerordentlichen Prosaautorin", sieht Schöffling & Co. seine Autorin Ulrike Almut Sandig ganz ähnlich, und da kann unsereiner nicht weniger als voll und ganz zustimmen.

Wer Germanistik nicht nur studiert hat, weil sie sexy ist, sondern weil ihn die Germanistik interessiert, weiß, dass ein Phonem die kleinste bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheit ist. Ein einziger kleiner Laut kann daher aus falsch wie mit Zauberzunge richtig machen. Doderer macht es in seinem Roman "Ein Mord, den jeder begeht" richtig: "Ligharts wurde jetzt nicht weniger als ein Richtpunkt, ein Vorbild" - weil Lighart, der Jugendfreund des Erzählers, diesem in der Tat nach langen Jahren erneut zum Muster, zum Vorbild wird.

Mag sein, dass die Studenten der sexy Germanistik die bewusste Redewendung bei Lessing, Wieland, Schopenhauer, Thomas Mann, Elias Canetti oder eben Doderer aufgeschnappt haben ("Er war in seinem Betragen oft nichts weniger als vornehm, unser Baron; aber er sah eben vornehm aus", liest man beispielsweise im Roman "Die Merowinger"). Für alle, die noch immer nichts weniger als überzeugt sind: Man kann das Pferd auch von hinten aufzäumen. Wenn die taz über die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens schreibt: "Während die einen in der Entkopplung von Arbeit und Einkommen einen Weg zu neuen Freiheiten und kreativer Selbstverwirklichung sehen, fürchten die Gegner nichts weniger als den Untergang", so wäre alles in Butter, wenn es hieße, dass die Gegner "nichts mehr als" den Untergang fürchteten.

Vielleicht ist das alles aber nichts mehr als verlorne Liebesmüh. Sollen die Leute es doch weiterhin nichts weniger als richtig machen! Man erkennt dann wenigstens die Angeber, die sich mit originellen Ausdrücken hervortun wollen und doch nichts weniger als Verstand beweisen.

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kari

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