Avantgarde im Kurort: Immer wenn es Nacht wird
Die Projektions-Biennale Lichtsicht nutzt die Mauern des niedersächsischen Kurorts Bad Rothenfelde für ein internationales Projektionskunst-Event.
OSNABRÜCK taz | Bad Rothenfelde ist kein Ort der großen Aufregung. Gepflegte Häuser an gepflasterten, schmalen Straßen prägen die Gemeinde im südlichen Niedersachsen. Vor allem ältere Leute besuchen den Kurort. Hier sprudelt nicht gerade das Leben, sondern höchstens der ein oder andere Brunnen im Kurpark.
Wohl kaum jemand würde hier moderne Kunst erwarten. Doch tatsächlich hat die 7.400-Seelen-Gemeinde ihr eigenes Kunst-Event, die Projektions-Biennale Lichtsicht, deren dritte Ausgabe am 1. Oktober startet. International tätige Medienkünstler bespielen Fassaden und Wasserflächen im Kurpark mit digitalen Bildern. Der österreichische Medienkünstler Klaus Obermaier jagt gar das ehrwürdige Kurmittelhaus in die Luft: Seine Installation lässt das Gebäude scheinbar explodieren. "Dancing House" betitelt Obermaier die Projektion freundlich.
Die Hauptschauplätze sind aber die zwei Gradierwerke, die einst für die Salzgewinnung errichtet wurden. Das jüngere von ihnen ist mit 412 Metern Länge das längste seiner Art in Westeuropa. Der Kurort nebenan hatte es in einem Ranking des Europäischen Tourismus-Instituts unter die Top Ten geschafft. Nur das Freizeit- und Kulturangebot, so die Studie, sei zu schmal. Die Idee, die Gradierwerke als Leinwand zu nutzen, hat man in Bad Rothenfelde entsprechend dankbar aufgenommen.
Künstlerischer Leiter der Projektions-Biennale ist der ehemalige Documenta-Leiter Manfred Schneckenburger. Nur in Bad Rothenfelde, so Schneckenburger, sei "die Entwicklung einer neuen Kunstform über Jahre verfolgbar". Anderswo würden zwar Licht-Festivals aus dem Boden sprießen, doch speziell Projektionskunst werde nur im Bad Rothenfelde gezeigt. In diesem Jahr sind neun Künstler bzw. Künstlergruppen beteiligt. Insgesamt sieben Arbeiten werden auf die Vorder- und Rückseite der Gradierwerke projiziert - entweder nebeneinander oder im Wechsel.
Schneckenburger grenzt die Projektionskunst ab von Sparten wie Video oder Film: Bei der Projektionskunst spiele das Objekt, auf das die Bilder geworfen werden, eine wichtige Rolle. Wenn die Schwarzdornwände der Gradierwerke bespielt werden, will also die grobkörnige Struktur des Untergrunds und die Lichtbrechung durch die Wassertropfen mit einberechnet werden.
Anfang des 18. Jahrhunderts wurde eine Solequelle in Bad Rothenfelde entdeckt. Um das Salz kostengünstig fördern zu können, wurde 1777 ein Gradierwerk gebaut: An seinen Schwarzdornwänden verdunstet ein Großteil des Wassers.
1824 folgte ein weiteres Gradierwerk, das mit 412 Metern Breite das längste in Westeuropa ist.
Die salzhaltige Luft in der Umgebung der Salinen hat heilende Wirkung.
1969 wurde die Salzproduktion eingestellt. Seitdem sind die Gradierwerke nur noch "Freiluft-Inhalatoren".
Die Bremer Künstlergruppe Urbanscreen zeigt auf 120 Metern Breite "Die Kohärenz der Zustände", einen beweglichen Partikelstrom, der eine Art artifizielles Meer darstellt. "Es ist unser künstlerischer Ansatz, unsere Projektionen auf die Oberfläche abzustimmen", sagt Thorsten Bauer, Kreativdirektor bei Urbanscreen.
Bauer hält Manfred Schneckenburgers Definition von der Projektionskunst als eigener Sparte sogar noch für untertrieben. Der Untergrund der bespielten Objekte sei nicht nur "zu berücksichtigen", sondern "substanzieller Teil" des Ganzen. Als Besonderheit definiert Bauer, dass in der Projektionskunst digitale und reale Welt zueinanderfinden. Videos könnten im Internet heruntergeladen werden. Wer Projektionskunst rezipieren will, ist dagegen an Ort und Zeit gebunden.
Mit den Kurortgästen und der künstlerischen Avantgarde treffen in Bad Rothenfelde zwei Welten aufeinander. Besonders deutlich wird der Zusammenstoß, wenn auf dem großen Gradierwerk "The Feast of Trinalchio" der russischen Künstlergruppe AES + F zu sehen ist. Die Projektion zeigt eine dekadente Gesellschaft der Zukunft, in der Wellness zum einzigen Lebensinhalt geworden ist. Da sind junge, schöne Menschen in weißer Fitnesskleidung auf Heimtrainern zu sehen. Die Kurortgäste davor bewegen sich schon mal per Rollator durch den Kurpark.
312 Meter Breite bespielen AES + F mit ihrer Projektion, die sie 2009 auch auf der Biennale in Venedig gezeigt haben. Dort hatten sie allerdings nur eine 50 Meter breite Wand zur Verfügung. Auf dieses Format sind die Lichtsicht-Veranstalter besonders stolz. So viel Raum, ist sich Schneckenburger sicher, hätten Künstler sonst nirgendwo.
Für Aufsehen sorgen die Projektionen, die drei Monate lang immer, wenn es dunkel wird, im Kurpark zu sehen sind. Viele abendliche Parkbesucher bleiben stehen und schauen sich die Bilder auf den Gradierwerk-Wänden, auf dem Ententeich oder gar einer Wasserfontäne an. Auf letztere hat Kanjo Také eine Mangafigur projiziert.
Der deutsch-japanische Künstler läuft auch bei Dunkelheit mit Sonnenbrille durch die Gegend und sagt über seinen Beitrag "Invision (Baustelle Galaxis)": "Ich will zeigen, dass alles aus dem Ei entsteht." Seine Projektion zeigt zunächst das Universum und dann ein zersprungenes Hühnerei, aus dem etwas später eine Schraube entsteht. Die Logik dahinter: Alles Leben entsteht aus einer Eizelle, auch der Mensch. Der wiederum erschafft die Gegenstände.
Die Bad Rothenfelder präsentieren ihre Biennale mit Stolz. Sie sei "identifikationsstiftend für den Kurort", sagt der Rothenfelder Bürgermeister Klaus Rehkämper. Er setzt sogar darauf, dass Lichtsicht ein weiteres Wahrzeichen seiner Gemeinde wird. Ein Wahrzeichen gibt es schon in dem Heilbad: die Gradierwerke.
Den Künstlern gefällt der Ort abseits der Metropolen. Zumindest Thorsten Bauer, der Bad Rothenfelde als eine Abwechslung empfindet. Denn für die Künstlergruppe Urbanscreen ist es das erste Mal, dass die Gruppe "offside der Großstädte" arbeitet, so Bauer, der unter anderem schon beim Cinematography-Festival in Madrid war. Bad Rothenfelde "ist dagegen mal ganz entspannt".
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