die wahrheit: Verstiegenes Wien

Mein Leben trägt bisweilen autobiografische Züge. Ich weiß genau, warum, doch gerade fällts mir nicht ein....

...Wie dem auch sei, die folgende Episode stupst mich an, um erzählt zu werden.

Kürzlich gondelten Inga und ich per ICE nach Wien. Zu dem Bündel der Anziehungskräfte für den Ausflug zählte ein literarisches Nebenstück. Der Schriftsteller Leo Perutz hatte 1926 den Kollegen Musil verspottet, indem er die fiese Anekdote lancierte, Musil habe ihn im Café Central "zur Zeit des Einstein-Rummels" auf seine, Perutz Erwerbstätigkeit als Mathematiker angesprochen.

Ob er nicht etwas darüber schreiben wolle? "Gemacht", sagte Perutz, "morgen bekommen Sie ein Feuilleton über die sittliche Basis gleichschenkliger Dreiecke." Inga zwinkerte mir zu, ich bedurfte einiger Minuten, um die Pointe leidlich, leiblich auszumessen.

Wie es der Zufall wollte, steht das Hotel, in dem wir logierten, im IX. Bezirk. Wenige Schritte entfernt wohnte Perutz - unweit der Berggasse, wo Sigmund Freud empfing - in der Porzellangasse 37, bis 1938, als ihn die Nazis vertrieben. Vom Treppenhaus aus schaut man auf die Strudlhofstiege, eine stattliche, im Jugendstil gestaltete Treppenanlage.

Heimito von Doderers Roman "Die Strudlhofstiege" wiederum erschien erst 1951. Die Einstiegsverse sind auf den Kalkstein geprägt: "Wenn die Blätter auf den Stufen liegen / herbstlich atmet aus den alten Stiegen / was vor Zeiten über sie gegangen." Perutz vs. Doderer - was will uns dieser asymmetrische Umstand offenbaren? "Nichts", sagte Inga, als wir die Stiege um Mitternacht bei unermüdlichem Gepladder erklommen. "Vom Wohnort abgesehen haben die beiden nichts miteinander gemein, schätze ich."

Als nächstes Forschungsprojekt beantragte sie den Besuch des Grinzinger Friedhofs: "Im Trauermonat November peilt alle Welt den Zentralfriedhof an. Wir nicht!" Abwechselnd nieselte es, prasselte, es triefte herab und wir sannen nach, was genau dieses Es meint. Und was Freud zu diesem Es sagte? Egal, wir fahndeten in der Dämmerung nach Thomas Bernhards Grab, ohne im Entferntesten den Touristen zu gleichen, die in Wien die Gräber bedeutender Autoren abschreiten.

Der Einzige, der außer uns auf dem Friedhof weilte, hockte durchnässt auf einem Grabstein einige Reihen hügelan. Der Neugier konnte ich nicht widerstehen. Ich näherte mich, fragte höflich, weswegen er sich an diesem tristen Herbstabend hier aufhalte. Stumm wies der junge Mann auf den Marmorblock gegenüber: "Peter Alexander."

Als Inga und ich Pfützen ausweichend zur Tram-Haltestelle gelangten, resümierte ich überaus originell: "Flach- und Hochkultur, E- und U-Kultur zu unterscheiden, hat mir nie eingeleuchtet. Ob jemand das Grab von Bernhard oder das von Peter Alexander aufsucht, ist doch dasselbe." - "Nicht dasselbe", meinte Inga: "Aber irgendwie das Gleiche: Pop-Kultur."

Anders gesagt: Kaufen Sie im Freud-Museum etwas, eine Ansichtskarte oder ein Feuerzeug. Auf der Quittung steht: "Sigmund Freud GmbH". Es erklärt so manches. Nämlich nichts.

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kari

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