Kolumne Blicke: Die Leserbriefpartei

Ein Satz, den man plötzlich im Kopf hat, “Tagesthemen“ 1985, Fischers Turnschuhe.

Es ist ein Dokument einer untergegangenen Epoche: 40 Sekunden, in denen gar nichts läuft, kein Hasseröder, kein Baumarkt. In denen sich nur hellrote Leuchtpunkte um einen blauen Uhrkreis fortbewegen.

Bis dann, am 12. Dezember 1985 abends um halb elf, die „Tagesthemen“ beginnen, unter anderem mit der Turnschuhvereidigung von Joschka Fischer und einem „halben US-Bataillon“ Soldaten, die über Neufundland abstürzen und sterben. 248 Tote. Die zur 101. US-Luftlandedivision gehörten, über die es die tolle Serie „Band of Brothers“ gibt.

Das alles findet sich im Netz, und ich kann darauf nicht mehr verzichten. Ich geriet aber in diesen Suchablauf, weil ich wissen wollte, wann ich meinen ersten, letzten und auch noch veröffentlichten Leserbrief verfasst habe. Eben 1985, da war ich 17, und schrieb dem Münchner Merkur was über Schein und Sein, also über Fischers Turnschuhe. Später hat mich Joschka Fischer mal in seinem Außenministerbüro empfangen, und er hat einen guten Eindruck auf mich gemacht – als Profi.

Ich kannte das damals noch nicht, diese Wandlung; wenn die Aufnahmegeräte ausgeschaltet sind: Was plötzlich alles erzählt wird. Fand ich clever. Wieder später hat mir dann ein erfahrener Kollege gesagt: Wichtiges im Beruf – nie schriftlich! Eine Regel, die sich sehr bewährt hat. Ich mag das Neue, wenn es mein Leben besser macht.

Ich wollte wissen, wann ich besagten Leserbrief geschrieben hatte, weil ich plötzlich diesen Satz im Kopf hatte: Die Piraten – das sind so Leute, die auch Leserbriefe schreiben; die Kommentare im Netz kommentieren. Mit lustigen Namen wie „Bodo M. Menschenfreund“ oder „Normalverbraucher“.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, warum ich damals den Leserbrief geschrieben habe. Ich fand das so ungerecht, dass der Münchner Merkur sich über die Turnschuhe Joschkas mokierte. Ich wollte sagen: Seid nicht so verdammt engstirnig! Werdet doch mal klug! Gebt dem Mann eine Chance!

Für mich war der Münchner Merkur ein Referenzorgan. Sonst hätte ich ja gesagt: Mein Gott – der Münchner Merkur, die Zeitung meiner Eltern! Was geht mich denn der an! Eigentlich wollte ich den Münchner Merkur und seine Leser besser machen. Also die Welt, in der ich lebte. Ich war kein Punk, ich hatte den Dialog nicht abgebrochen (über die Punks, die sich einmal die Woche von Mutti aufpäppeln ließen – na ja). Ich war halt 17.

Heute gibt es nur einen Anlass, der mich in Versuchung führt, einen Leserbrief zu schreiben. Das ist, wenn in meinem Referenzorgan ein Thema behandelt wird, von dem ich glaube, was zu verstehen, und die Fakten nicht stimmen. Aber dann denke ich immer: Gut, dass sie nicht stimmen. Wie blöd bist du, dass du an Referenzorgane glaubst?

Wieso man aber tatsächlich einen Leserbrief schreibt und abschickt? Warum man im Netz mit lustigem Namen einen Text kommentiert? Ist es der Schritt vom 8oer Motto „Du mußt dein Leben ändern“ zum freshen „Du mußt dein Ändern leben“? Und wie kam ich auf den Satz, die Piraten, das sind so Leute, die auch Leserbriefe schreiben? Ich weiß es auch jetzt nicht. Und muss nun gehen.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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