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Archiv-Artikel

SONJA VOGEL LEUCHTEN DER MENSCHHEIT Wir, das Suchtproletariat

Neulich sagte eine Freundin: „Nächste Woche nehme ich meinen Jahresurlaub.“ Sie sprach aber nicht von Ferien in der Bretagne, sondern von zwei Wochen Klapse, von ihrer Selbsteinweisung, von Pillen und festen Regeln. Zwei Wochen am Ort der Glückseligkeit, für sie jedenfalls. Keine Frage: Die Kreativarbeiterin im Dauerstress hat sich eine Auszeit verdient.

Aber Urlaub auf Psychodroge? Ist das die Verkehrung von erkämpfter Emanzipation in neue Abhängigkeiten? Paradox. Litt Freuds Ich noch unter den Beschränkungen, die ihm die Kultur auferlegte, kapituliert man heute vor den unendlich vielen Möglichkeiten. Die Neurose wurde abgelöst von der Depression, dem Unvermögen, jenem Imperativ der Selbstverwirklichung zu folgen. „Arbeiten, gut aussehen, spielen“ – das seien die Suchtauslöser unserer Zeit, zitiert Daniel Kulla einen Arzt („Leben im Rausch. Evolution, Geschichte, Aufstand“, The Grüne Kraft, 2012).

Der Rausch hat viele Vorteile: ein Mehr an Optionen. Neben der grenzüberschreitenden Variante gibt es aber auch den bad trip, der einen nur den Klammergriff der aus den Fugen geratenen Arbeitswelt ertragen hilft. Kulla spricht vom „Eingeklemmtsein des Rauschs zwischen staatlicher Kontrolle und kapitalseitiger Kommodifizierung“. Denn der Kapitalismus liebt die Droge, offeriert er doch selbst keine Motivationsstrukturen. Darum regelt er penibel, welche Suchtmittel verfügbar sind – und für wen. Während sich der erfolgreiche Workaholic-Jetset mit leistungssteigernden Mitteln belohnt, hat die Mehrheit darauf kaum Zugriff.

Hochwertige Drogen sind eben vor allem eine Frage des sozialen Standes. In Sachen Rausch sind wir in Freuds Jahrhundert hängen geblieben: bei billigem Fusel, Tabak und Downern. Wir sind das Suchtproletariat. Noch hat der Rausch also nicht viel mit Befreiung zu tun – da mag die Anstalt eine Alternative sein …

Die Autorin ist ständige Mitarbeiterin der taz-Kulturredaktion