Performance: Staunend im Steinreich

Sechs europäische Theatergruppen spielen Stücke für die ganz jungen Zuschauer: fast ohne Worte.

Die Schauspielerin schaut den kleinen grauen Kieselstein an, als hätte sie so etwas Wunderbares in ihrem Leben noch nicht gesehen. Sie dreht und wendet ihn, zeigt ihn triumphierend ihren beiden staunenden Kollegen auf der Bühne, streicht über die glatte Oberfläche und hält ihn sich ans Ohr. Vielleicht macht er ja ein Geräusch? Etwa dreißig Kinderaugenpaare folgen gebannt ihren Bewegungen – und obwohl das Durchschnittsalter der kleinen Zuschauer bei etwa zwei Jahren liegt, ist es ganz still im kleinen Saal des Theaters o.N. in Prenzlauer Berg.

Das Theater o.N. – die Abkürzung steht für „ohne Namen“ – in der Kollwitzstraße ist noch bis morgen Zentrum des Fratz Festivals. Sechs Theatergruppen aus fünf europäischen Ländern spielen auf verschiedenen Bühnen in der Stadt Theater „für sehr junge Zuschauer“. Die meisten Inszenierungen, wie auch das Mensch-trifft-auf-Stein-Stück „Kling, kleines Ding*“, ist für Kinder ab zwei Jahren gedacht. Es gibt aber auch eine polnische Musik-Performance „Sleep“, die Zubettgehrituale in Farben und Klänge übersetzen will – für Babys ab sechs Monaten.

Handlung, eine Erzählstück im eigentlichen Sinne, das funktioniere bei so kleinen Kindern, auch bei den Zweijährigen, natürlich noch nicht, sagt Festivalleiterin Dagmar Domrös. „Es geht vielmehr um Vorgänge und Erfahrungen, um ästhetisches Erleben“, sagt Domrös, die auch für die Dramaturgie von „Kling, kleines Ding*“ zuständig war. „Worte spielen keine große Rolle“, versucht Regisseur Bernd Sikora zu erklären. „Es geht um Bilder, um Sinneseindrücke.“

Dabei sei es gar nicht so entscheidend, dass man als Erwachsener vielleicht ein ganz anderes Ästhetikempfinden hat als ein kleines Kind, findet Schauspielerin Uta Schulz: „Man geht von sich aus. Man versucht sich zu erinnern, was einen als Kind fasziniert hat, man versucht das in sich wiederzuentdecken.“ Der Rest entstehe dann durch Beobachtung, sagt Domrös. „Wenn wir ein Stück entwickeln, laden wir einmal in der Woche eine Kitagruppe ein und schauen: wo geht die Aufmerksamkeit hin, wo reagieren sie – oder auch nicht?“

Auf der Bühne im Theater o.N. haben sich die drei SchauspielerInnen mittlerweile ein Steinreich gebaut. Staunend entdecken sie, dass man auf glatten, dünnen Steinplatten rutschen kann, wenn man sie sich unter die Füße klemmt, sie bauen Steinstraßen und probieren mit großen Xylofonschlägern aus, wie unterschiedlich Steine klingen können. Dann wird die Bühne plötzlich dunkel, Steine, Hände und Schläger werden zum Schattenspiel an der Wand. Ein Spiel aus Licht und Schatten, Rhythmus, Tönen und Bewegung – eine scheinbar spielerische und dennoch irgendwie zwingende Choreografie. Die Kinder halten tatsächlich bis zum Ende der 30 Minuten Spielzeit durch, die Eltern auch – kein Smartphone-Bildschirm leuchtet auf den Knien.

Die Eltern seien ohnehin wichtig, sagt Dagmar Domrös, die müsse man immer mitdenken beim Kleinkindtheater: „Weil die Eltern das Stück ja letztlich für gut befinden müssen, sonst gehen sie dort mit ihren Kindern nicht rein.“ Für Domrös ist diese „Schere im Kopf“ – was sehen die Erwachsenen in der Inszenierung, was packt die Kinder an diesem Stück – aber auch genau das, was an Theater für Kleinkinder faszinieren kann. Wenn es gelingt, die Schere zu schließen und in ein Spiel zu übersetzen, das alle mitreißt. In dem Stück „Weiße Wäsche“ etwa, sagt Domrös, da gehe es für die Kinder vor allem um die Auseinandersetzung mit dem Material Stoff. „Die Drei- bis Vierjährigen erkennen vielleicht schon Identitätsfragen, die in der Inszenierung mitschwingen – und viele Erwachsene haben mir hinterher gesagt: Das ist doch eine Liebesgeschichte, die solle sich jeder anschauen, der in einer Langzeitbeziehung ist.“

Stoff, Steine, Rollenspiele, Ausprobieren, Entdecken – eigentlich machen das Kinder alles auch von alleine, wenn man sie im Sandkasten mit Gleichaltrigen in Ruhe lässt. Ja, sagt Regisseur Sikora – und dennoch: „Theater kann Kleinkindern Impulse geben, vielleicht ein erstes Empfinden für Ästhetik und Poesie abseits des natürlichen Spiels vermitteln.“ Theater für Kleinkinder sei „ein Zusatzangebot“, findet Domrös. „Natürlich sollen Kinder zunächst mal selbst spielen. Wenn es Entweder-oder wäre, Wald oder Theater, dann würde ich sagen: Wald. Aber die Wälder werden ja nicht geschlossen, weil wir hier Theater anbieten.“

Das war dann auch der allgemeine Konsens auf dem begleitenden Symposium für die Erwachsenen, das Montag- und Dienstagabend im Grips Podewil in Mitte stattfand. Und über noch etwas war man sich einig: Das Handwerkszeug, das müsse sitzen, bei Regisseuren und Schauspielern. „Man muss Kleinkindtheater ernst nehmen wie Theater für Erwachsene auch. Das ist kein Pillepalle“, sagt die Berliner Theaterpädagogin Cindy Ehrlichmann, die unter anderem am Theater o.N. spielt und inszeniert. Als bei „Kling, kleines Ding*“ ein mit höchster Konzentration gebauter Steinturm endlich, endlich unter Triumphgeheul umfällt, lacht ein Vater am lautesten.

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