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Freies TheaterDie schnellen Brüter

Im Umfeld der Universität Hildesheim ist eine der lebendigsten Szenen des freien Theaters in Deutschland entstanden.

Maskierte Menschen vorm Altar: Die Inszenierung "Polis 3000: Oratorio" ist beim Best Off-Festival zu sehen. Bild: Gerhard F. Ludwig

HILDESHEIM taz | Hildesheim ist eine eigenartige Stadt. Knapp 100.000 Einwohner, 30 Kilometer vor Hannover, katholisch-konservativ, von außen betrachtet unauffällig, aus der Innenperspektive verschlafen. In Süddeutschland kennt niemand Hildesheim, im hohen Norden fast niemand.

Aber es gibt zwei Bereiche, in denen Hildesheim in einem Atemzug mit Metropolen genannt wird. Der erste Bereich ist die ägyptische Sammlung des Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus Museums: Sie gilt neben den Sammlungen in Boston und Kairo als eine der weltweit bedeutendsten.

Der zweite Bereich ist die freie Theaterszene der Stadt. Die hat den Ruf, neben den Szenen von Berlin und Gießen eine der drei wichtigsten Brutstätten des freien Theaters in Deutschland zu sein.

Den guten Ruf der Hildesheimer bestätigt einmal mehr das Festival Best Off, das kommende Woche in Hannover läuft. Die Festivaljury begutachtete 69 Produktionen freier niedersächsischer Theater. Sechs davon wurden für das Festival ausgewählt.

Die Uni als Inkubator

Fünf der sechs ausgewählten Inszenierungen gehen aus der Hildesheimer Szene hervor: „Ein Bankett für Tiere“ (Fräulein Wunder AG), „Hörst du Rot?“ (Kassetten Kind), „Polis 3000: Oratorio“ (Markus & Markus), „Tears in Heaven“ (Vorschlag Hammer) und „Soldaten“ (Werkgruppe 2).

Ausgebildet hat sich die Hildesheimer Szene über Jahre hinweg an der dortigen Universität. In den Studiengängen Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis sowie Szenische Künste werden zeitgenössische Theaterästhetiken nicht nur erforscht, sondern selbst entwickelt.

Inspiriert vom Studium gründen sich außerhalb der Universität Theatergruppen und beginnen, in freien Strukturen zu arbeiten. „Frei“ bedeutet: Alle Beteiligten entwickeln gemeinsam ein Stück, das ein aktuelles Thema behandelt. Die Texte und Fakten werden selbst recherchiert und zusammengestellt.

Glücksfall für Niedersachsen

Es gibt flache bis gar keine Hierarchien und keine klassische Aufgabentrennung in „Regisseur“, „Dramaturg“ oder „Schauspieler“. Die Aufführungen finden nicht an einem festen Haus statt, sondern an mehreren Häusern oder an besonderen, oft theaterfernen Orten wie Schwimmbädern, Kasernen oder Müllkippen.

Für Niedersachsen ist die Hildesheimer Brutstätte in mehrerer Hinsicht ein Glücksfall. Als zweitgrößtes deutsches Flächenland steht es kulturpolitisch vor der Aufgabe, nicht nur Highlights in den Großstädten, sondern auch Teilhabe in den vielen kleinen Städten und Gemeinden zu ermöglichen.

Die freien Theater bringen die Flexibilität mit, in beiden Zusammenhängen zu arbeiten. Gerade auf dem Land können sie mit Stücken, die einen lokalen Bezug haben, sehr erfolgreich Theater machen.

Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Auf Probe – Alltagsutopien für das Braunschweiger Land“: Die Bürger Braunschweigs und des Braunschweiger Umlands formulierten ihre Wunschvorstellung vom Leben in der Region. Sechs ausgewählte freie Gruppen – davon vier aus Hildesheim – sollten aus den Ergebnissen Theaterstücke machen. Die nächste Premiere ist die „Konferenz der Utopisten“ der Fräulein Wunder AG am 8. November in Braunschweig.

Entvölkerte Landstriche

Ein weiteres zentrales Thema der niedersächsischen Kulturpolitik ist der demografische Wandel. Insbesondere im südlichen Niedersachsen wird befürchtet, dass sich ganze Landstriche entvölkern, wenn keine Kinder mehr geboren werden und junge Leute auf der Suche nach Arbeit zunehmend abwandern. Die Folge ist eine sich selbst verstärkende Ödnis auf dem Land. Auch dagegen können die freien Theater helfen.

Gut 100 freie Gruppen gibt es in Niedersachsen, das ist beim Landesverband der freien Theater in Niedersachsen zu erfahren. Das Land fördert dieses Jahr rund 40 freie Produktionen und unterstützt rund zehn Theater mit einer „Konzeptionsförderung“, die den Theatern über maximal drei Jahre Planungssicherheit ermöglicht.

Insgesamt 1.111.000 Euro gibt Niedersachsen dieses Jahr dafür aus, damit steht es nach einer Einschätzung des Landesverbands der freien Theater bundesweit etwa im oberen Mittelfeld.

Daneben gibt es für die freien Gruppen in Niedersachsen die Möglichkeit, über Stiftungen an Fördergelder zu kommen. Eine davon ist die Stiftung Niedersachsen, die beispielsweise jede Gruppe, die sie für das Festival Best Off ausgewählt hat, mit 10.000 Euro fördert. Auf dem Festival selbst wird dann zusätzlich eine Jury eine Inszenierung auswählen, die weitere 5.000 Euro erhält.

Auf Bundesebene gibt es zudem millionenschwere Förderprogramme wie den „Doppelpass“ der Kulturstiftung des Bundes: Gefördert werden Projekte, die freie Gruppen zusammen mit Stadt- oder Staatstheatern durchführen. Dabei treffen zwangsläufig zwei völlig verschiedene Produktionsweisen aufeinander. Das Ziel des Förderprogramms ist, dass sich beide Seiten gegenseitig inspirieren.

Aktuell erarbeitet die Werkgruppe 2 zusammen mit dem Staatstheater Braunschweig die Produktion „Fliehkräfte“, in der es um die Braunschweiger Abschiebepraxis von Flüchtlingen und die zugleich gewünschte Zuwanderung etwa von Altenpflegerinnen geht.

Der Sog Berlins

Trotz aller Anstrengungen läuft Niedersachsen wie alle anderen Bundesländer Gefahr, seine freien Künstler früher oder später an Berlin zu verlieren. Die Hauptstadt lockt nicht nur mit einer internationalen Szene, sondern auch mit vergleichsweise üppigen Fördertöpfen. Auch was den Berliner Sog betrifft, profitiert Niedersachsen von der Universität Hildesheim:

Dort lernen die jungen Theatermacher nicht nur, wie man ein Stück auf die Bühne bringt, sondern auch, wie man eine Finanzierung auf die Beine stellt. Oft arbeiten sie nach dem Studium mit der zu Studienzeiten gewonnenen Routine weiter in Niedersachsen, anstatt sofort nach Berlin zu wechseln, wie es etwa die rein künstlerisch ausgebildeten Theatermacher aus Gießen in der Regel tun.

Nachwuchs für Baden-Württemberg

Einen Spitzenplatz im Ranking der öffentlichen Förderung nimmt übrigens Baden-Württemberg ein. Das Land hat zwar Geld, aber keine Ausbildungsstätte für freie Theaterschaffende – und somit ein Nachwuchsproblem. Mittlerweile gibt es Hildesheimer, die das erkannt haben und auch in Baden-Württemberg Theaterprojekte machen.

Ein Beispiel ist der Verein Theater in den Bergen, den die Hildesheimer Arnd Heuwinkel und Antonia Tittel gegründet haben: Sie machen im Südschwarzwald ein opulentes Landschaftstheater unter Beteiligung der Bevölkerung. Das Vorbild dafür lieferten die Heersumer Sommerspiele, die wiederum 1990 ins Leben gerufen wurden – von Studierenden der Uni Hildesheim.

■ Best Off – Festival Freier Theater: 24. bis 26. Oktober, Hannover, Ballhof

■ Der Autor hat selbst an der Uni Hildesheim studiert. Theaterbühnen kennt er allerdings nur aus der Zuschauerperspektive

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