piwik no script img

Kolumne NüchternSaufen als Abkürzung

Daniel Schreiber
Kolumne
von Daniel Schreiber

Die neuronalen Codes der Abhängigkeit bleiben ein Leben lang erhalten. Dem muss man die Sorge um sich selbst entgegensetzen. Das hilft.

Danach gibt es immer ein böses Erwachen. Bild: dpa

S eit ich diese Kolumne schreibe, fällt mir auf, wie viele Menschen ein Problem damit haben, Abhängigkeit tatsächlich als eine Krankheit zu verstehen. Weit verbreitet ist nach wie vor die Annahme, dass man erst „krank“ sei, wenn die Leberwerte in dramatische Höhen schießen oder man andere mit riskantem Trinkverhalten verbundene körperliche Leiden erfährt.

Die traurige Wahrheit ist, dass es für die Betroffenen dann oft schon fast zu spät ist. Abhängigkeit ist eine Krankheit, die sehr viel mehr umfasst als das Trinken von Alkohol. Lange bevor sie organische Spuren hinterlässt, verändert sie nach und nach die Psyche der Erkrankten.

Die meisten Neurologen verstehen Alkoholkrankheit heute, vereinfacht gesagt, als eine fehlgeschlagene Form des Lernens. Genauso wenig, wie das Gehirn verlernt, Fahrrad zu fahren oder zu schwimmen, verlernt es das übermäßige Trinken. Die damit assoziierten Gefühle und Erinnerungen sind in die biochemischen Kreisläufe des Gehirns eingebrannt.

In noch nicht ausreichend erforschten Prozessen kommt es im Nucleus accumbens, dem Lustzentrum des Gehirns, bei regelmäßiger Alkoholzufuhr zudem zu einer Wucherung bestimmter Nervenzellen, den sogenannten Stachelneuronen.

Diese Veränderungen sind irreversibel. Die neuronalen Codes der Abhängigkeit zeigen sich nicht nur sehr viel früher, als man gemeinhin annimmt. Sie bleiben auch ein Leben lang erhalten.

Wenn ich heute an jene Zeit denke, in der ich noch getrunken habe, kommt es mir so vor, als hätte ich oft versucht, im Trinken eine Art Abkürzung zu finden, als hätte ich alles mögliche auf den Alkohol projiziert: Das Bedürfnis nach Nähe, den Wunsch nach Entspannung, das Begehren nach Entgrenzung und Auflösung.

Darin bestand für mich die Verführungskraft des Trinkens: Alkohol machte es einfacher für mich, die Welt anzunehmen, es machte mich, mein Leben und andere Menschen lustiger, attraktiver, schlichtweg erträglicher. Wenn man eine Substanz derart besetzt, wird es natürlich schwer, seine Bedürfnisse auf eine andere, eine reale Weise zu befriedigen, sich auf eine gesunde Weise um sich zu kümmern. Das ist etwas, das man nach und nach verlernt, wenn man trinkt.

Eine Freundin von mir, die seit nun schon fast zwei Jahrzehnten nüchtern ist, sagt oft, dass man als Extrinker eigentlich erst nach fünf Jahren Nüchternheit herausfinde, wer man wirklich ist, und dass man dann noch fünf weitere Jahre brauche, um dafür einstehen zu können.

Zweieinhalb Jahre ohne Alkohol

Keine Ahnung, ob das stimmt, zum jetzigen Zeitpunkt trinke ich etwas mehr als zweieinhalb Jahre nicht mehr. Aber obwohl sich mein Leben seither komplett verändert hat und es mir tatsächlich so geht wie noch nie, habe ich ein Gefühl dafür, was sie meint. Ich muss oft an ihre Aussage denken.

Ich sehe das an vielen meiner Freunde und Bekannten: Die einzige Chance für eine lang anhaltende Nüchternheit, für ein glückliches Leben, dafür also, den neuronalen Codes der Abhängigkeit etwas entgegenzusetzen, besteht, auch wenn das esoterisch klingen mag, in einer echte Sorge für sich selbst. Sie besteht darin, sich all jenen Konflikten und unangenehmen Gefühlen zu stellen, denen man sich nie stellen wollte. Darin, sich durch seine Scham und seine Wut zu arbeiten, darin, sich wirklich selbst kennenzulernen und dieses authentische Selbst nicht zu verraten.

Das ist etwas, was Zeit braucht, viel Zeit. Und wie könnte es das auch nicht. Und es ist Zeit, die sich auszahlt. Der Lohn für diese Arbeit ist so viel schöner, als man es sich je hätte vorstellen können: Man wird zu der Person, die man wirklich schon immer sein wollte, zu dem Menschen, der man schon immer werden sollte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Daniel Schreiber
Schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und das Radio über Literatur und Kunst. Sein Buch "Susan Sontag. Geist und Glamour", die erste umfassende Biografie über die amerikanische Intellektuelle, ist im Aufbau-Verlag und in amerikanischer Übersetzung bei Northwestern University Press erschienen. Im Herbst 2014 kommt sein neues Buch "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück" bei Hanser Berlin heraus. Darin erzählt er seine persönliche Geschichte und macht sich über die deutsche Einstellung zum Trinken und Nicht-Trinken Gedanken. Schreiber lebt in Berlin. ( http://daniel-schreiber.org )
Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Ich war seit meinem 13. Lebensjahr starker Trinker. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gab es nur einen stärkeren, der allerdings schon mit 27 Jahren an einem nicht alkoholbedingten Unfall gestorben ist. Trozdem hielt ich mich nicht für akoholsüchtig, so wie ich nikotinsüchtig war und bin. Als ich vor 20 Jahren mit 50 wegen einer nicht alkoholbedingten Pankreatitis - die Leberwerte waren und sind immer noch in Ordnung - habe ich das sofort mit dem Trinken aufgehört und das bis heute eingehalten. Nur am 70. Geburtstag des schon erwähnten verstorbenen Freundes habe ich 3 Pils getrunken, ohne irgendwelche Nachwirkungen. Zwar werde ich nicht mehr so leicht agressiv, wie oft im Vollrausch. Aber Small-Talk und anderes dummes Zeug, was sich sonst nach ein paar Bier ertragen ließ, geht mir schnell auf den Wecker, sodaß meine Sozialkontakte sich eingeschränkt haben. Manchmal vermisse ich die.

     

    Aufgrund dieser Erfahrungen halte ich alles, was über den Alkoholismus und die Sucht als solche gesagt wird für großen Quatsch.

  • Sehr geehrter Herr Schreiber,

     

    nach eingängiger Recherche über die sogenannten Stachelneuronen, musste ich zu meinem Bedauern feststellen, dass dieser Neuronentypus frei erfunden ist. Ich konnte an keiner Stelle des Ganzen Internets etwas über diese Stachelneuronen in Verbindung mit Alkoholismus finden.

    Ich bitte um Aufklärung!

    • Daniel Schreiber , Autor des Artikels,
      @Friedrich Ernst:

      Sehr geehrter Herr Ernst, die "Stachelneuronen" sind leider keine Erfindung. Der Begriff ist die deutsche Übersetzung für "Spiny Neurons". Der englische Ausdruck ist sehr viel gebräuchlicher, hier habe ich aus Gründen der Verständlichkeit den deutschen gewählt. Hier ein Link zum Abstract eines wissenschaftlich abgesicherten Artikels zur Neurologie der Abhängigkeit: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22445807. Wenn Sie weitersuchen, werden Sie zahlreiche ähnliche Artikel finden. Detaillierte Informationen zum Thema finden Sie auch in folgenden populärwissenschaftlichen Titeln: David J. Linden: "High. Woher die guten Gefühle kommen", CH Beck 2011; Marc Lewis: "Memoirs of an Addicted Brain", Public Affairs New York, 2013; Charles Duhigg: "Die Macht der Gewohnheit", Berlin Verlag 2012; oder auch Dirk Hanson: "The Chemical Carousel", Booksurge Publishing 2009.

  • "... kommt es im Nucleus accumbens, dem Lustzentrum des Gehirns, bei regelmäßiger Alkoholzufuhr zudem zu einer Wucherung bestimmter Nervenzellen, den sogenannten Stachelneuronen."

    "... zu einer Wucherung bestimmter Nervenzellen, DER sogenannten Stachelneuronen (Genitiv!)."

    • @Heinrich Ebbers:

      Hier geht es um das traurige Schicksal von Hunderttausenden und vermutlich sogar von Millionen - und Sie reden vom Genitiv... Mein Gott...