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Judith Hermanns erster RomanMommy Horror

Kunstvoll und beängstigend: Nun ist der erste Roman der Schriftstellerin Judith Hermann erschienen – die Stalkerfantasie „Aller Liebe Anfang“.

Den ersten Roman vollendet: Judith Hermann. Bild: Imago / Lars Reimann

Vier Dinge, die man über Judith Hermanns neues Buch wissen sollte. Erstens wird es ein Bestseller, definitiv. Zweitens ist es erstmals kein Erzählband, sondern ein Roman, was bereits in staatstragenden Vorab-Interviews umfassend erörtert wurde. Drittens lassen sich eine solche Medienhysterie und solche Publikumserfolge im Falle Judith Hermanns durchaus erklären: Sie ist schlicht und ergreifend eine außerordentlich kunstvolle Erzählerin.

Es hatte gute und schöne Gründe, warum ausgerechnet ihr Erzähldebüt „Sommerhaus, später“ um die Jahrtausendwende herum plötzlich auf jeder Rentner-Lesekreis-Liste, in jedem noch so abwegigen WG-Bücherregal und auf den allermeisten Deutsch-Lehrplänen zu finden war. Gründe, die vor allem mit Hermanns Fingerspitzenfähigkeit zu tun hatten, eine vermutete Befindlichkeit der jungen Berliner Republik formvollendet in eine eigene, taumelnd kühle, aufgeladen lebensmüde Sprache zu übersetzen.

Viertens aber ist kunstvoll manchmal nicht genug. Denn Literatur, wie Judith Hermann sie seither alle Handvoll Jahre veröffentlicht, ist beileibe nicht nur Kunst. Kunstvoll an Hermanns Schreiben war im Gegenteil immerzu eine Art soziologisches Versprechen: Guckt alle mal, wie unentschieden und melancholisch sich die nur sehr allmählich alternde Generationenkohorte dieser Geschichten durch ihr Leben achselzuckt.

Hier wird derart meisterhaft derart großer atmosphärischer Aufwand rund um einige Leerlaufbiografien betrieben, das muss doch etwas über unsere Zeit sagen.

Das Buch

Judith Hermann: „Aller Liebe Anfang“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014, 224 Seiten, 19,99 Euro

Sozialer Tumult

Kunst muss gar nichts, sie kann aber. Mit dem enormen Können, ein vermeintlich authentisches Milieu und Lebensgefühl scheinbar zeittypisch abzuprotokollieren, spielte Hermanns Prosa von Anfang an. Wenn in ihren inzwischen drei Erzählbänden Gefühlsnichtigkeiten derart fortwährend zartbitter aufgebauscht werden konnten, dann brauchten sich die Leser zumindest um die deutsche Mittelschicht nun wirklich wenig Sorgen zu machen.

Und wenn gar ganz weit hinten am Erzählhorizont auch mal Nichtbohemiens vorkamen, beispielsweise in die Erzählerinnen verliebte mittellose Taxifahrer oder für leichte Beilagenexotik zuständige indische Köche, dann dienten diese nur als das eigene sichere Kapselgefühl verstärkende Staffage.

Aufstiege, Abstiege, Begegnungen, überhaupt soziale Mobilität und soziales Leben jenseits des eigenen Biedermeier konnten in Judith Hermanns Prosa gar nicht vorkommen. Am aufregendsten am Experiment dieser absolut gesetzten Behauptung vom melancholischen Stillstand war darum in den letzten anderthalb Jahrzehnten eigentlich immer ihr jeweils nächstes, kommendes Buch.

Unerwartet: Ein sozialer Tumult

Inmitten einer vielgestaltigen, jeden Einzelnen vor diverse unterschiedliche Herausforderungen stellenden, sich rasant verändernden Gesellschaft konnte es doch einfach nicht immer so weitergehen mit der in jeder Hermann-Erzählung ebenso virtuos wie reflexionsfrei wiederholten soziologischen Behauptung von einer nur mit ihrem eigenen Privatheitsporzellan beschäftigten Bauchnabelgeneration.

Womit wir bei „Aller Liebe Anfang“ wären, wo für Hermann-Verhältnisse zumindest auf den allerersten Blick geradezu sozialer Tumult herrscht. Anders als viele ihrer Vorgängerinnen hat Hauptfigur Stella nämlich revolutionärerweise Beruf, Umfeld und Familie, kurzum: scheinbar klare Kanten. Stella ist Krankenpflegerin für Sterbende und dadurch schon von Amts wegen täglich mit dem Ringen um die eigene Existenz konfrontiert.

Stellas Ehemann wiederum ist Handwerker und auf Montage oft wochenlang fort von zu Hause. Die zwei haben ein kleines Kind, unterhalten sich längt nicht mehr ganz so rege und wollen irgendwann wieder umziehen, fort aus ihrem ersten Einfamilienhaus in etwas bröckeliger Vorstadtlage.

Programmatisch weit ab vom Schuss

Diese Lage draußen vor der namenlosen, diffus englisch wirkenden (der internationale Buchmarkt wird das begrüßen) Stadt ist wichtig. Nichts ist mehr Jeunesse dorée vor irgendeiner globalen Prenzlauer-Berg-Tapete, alles ist programmatisch weit ab vom Schuss und damit tief verankert im vermeintlich Realen. Stella ist 37 Jahre alt und tagträumt sich längst gerne mal in ihre Single-Jugendjahre vor zehn, fünfzehn Jahren zurück, als sie mit mitten in der Stadt mit Nichtstun, Bettgeschichten und natürlich ebenfalls vor allem Tagträumen beschäftigt war.

Die Anlage ist also von kurioser Statik: Stella hat sich absolut nicht weiterentwickelt. Sie ist bloß mit den Jahren in stärkere biografische Verpflichtungen eingewickelt worden, ihr ist „im Leben ein Provisorium nach dem anderen abhandengekommen“, wie sie einmal im feierlichen, stets dringlich mitziehenden Hauptsatzstil des Romans äußert.

Fremder am Gartentor

Die Sache ist nun, dass Stella gestalkt wird. Es klingelt eines Tages am Gartentor, ein fremder Mann steht davor. Er will mit ihr sprechen, Stella will aber nicht. Der fremde Mann kommt wieder und wieder, wirft ihr bald täglich wirre Botschaften in den Briefkasten. Er will wie mit dem Brecheisen in ihr Leben hinein und verschwindet einfach nicht mehr. Die Sache geht noch etwas weiter, aber das darf man der Spannung wegen nicht verraten.

Man muss erst mal tief Luft holen, um zu sagen, dass diese Geschichte vom klingelnden fremden Mann unbedingt aufregend erzählt ist, dass sie eigentlich schon fast den ganzen Roman ausmacht und dass sie auch genügt. Bei Stellas Lebensweise hat sich im Vergleich zu früher wenig getan, aus Single-Nymphe ist eben eine Mutter-Nymphe geworden, die statt auf Zigarettenrauch jetzt gern poetisch auf die süßen Kinderschuhe der Tochter herniederstarrt und zu ihren Sterbebegleitungsjobs ähnlich elegisch gestimmt wie zu einer Bachblütentherapie schreitet. Aber der Stalker durchbricht all dieses Gewabere.

Man hätte das ja niemals von einem Judith-Hermann-Text erwartet, aber „Aller Liebe Anfang“ liest sich teilweise tatsächlich wie ein existenzgefährdender, bösartig zeitlupenhafter Psychothriller, und das, bloß weil dieser fremde Mann da ständig vor dem Gartentor und dem eigenem saftlosem Sehnsuchtsleben rumsteht.

Kunstvoll werden sogar immer wieder echte Suspense-Werkzeuge in Anschlag gebracht, wenn etwa anfangs in einer großartigen Sequenz die Erzählung ganz ohne Handlung durch Stellas gefährdetes Haus schweift und also selbst wie ein Stalker die herumliegenden Alltagstrivialitäten betrachtet. Möglich scheint von dieser Stelle an, dass die vollständige Idee des fremden Mannes nur eine Wahnprojektion der labilen Stella ist, womit dann übrigens auch einige sonst handwerklich fragwürdige Entgleisungen der Erzählperspektive hinein ins Stalkerbewusstsein gegen Ende erklärt wären.

Mommy Horror

Wenn erotische Fantasien von der Flucht aus dem eigenen Bürgerinnentrott Mommy Porn genannt werden, dann sollte man bei dieser literarisierten Stalkerfantasie von Mommy Horror sprechen. Für das Personal der Gegenwart jedenfalls wird die biedere Funktion des literarisierten Stalkers durch Judith Hermann klar umrissen: Das Andere klopft ebenso bedrohlich wie lockend an die verbarrikadierte Tür zur eigenen Arbeitende-Mama-Welt.

Stella zumindest fühlt sich irgendwie auch hingezogen zu ihrem Stalker. Als Konstellation ist das bisweilen unfreiwillig komisch beschrieben, wenn Stella etwa noch bei jedem Augenkontakt mit ihrem Verfolger wirres Pathos durch die Gedanken schießt: „Der ganze Weg, den man zum anderen hin auf sich nehmen kann, ist ja in diesem Blick. Der Weg hin, der Weg zurück auch.“

Wer aber der fremde Mann konkret ist, warum er Stella eigentlich stalkt, das spielt bei aller Suggestion von gewaltiger Bedeutsamkeit keinerlei Rolle. Auch wenn Judith Hermann einen Roman geschrieben hat, schlägt dieser jede Möglichkeit der Romanform aus, Personen, Ideen, globale Lebenswelten in irgendeine Form von Reflexion und Austausch zu setzen, täuscht genau solche Optionen aber fortwährend an.

Als dritter exotistischer Dringlichkeitsimport neben dem Sterben von Stellas Patienten und dem Stalker dienen im Roman zuweilen Medienmeldungen über Kriege, Klimakatastrophen oder chinesische Grubenarbeiter, die Stella stets kommentarlos aufschnappt, um dann bereits im nächsten Absatz wieder über ihr eigenes Wintergartenleben zu raunen, „alles habe eine Bedeutung, eine versteckte Botschaft“. Letztlich ist dieser kommende kunstvoll komponierte und durchaus beängstigende Belletristik-Bestseller so vor allem eines: beängstigend egozentrisch.

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1 Kommentar

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  • In "Alice" erzählt Hermann von dem Gefühlsvakuum, das um den Tod eines nahestehenden Menschen entstehen kann - solcherlei ist also eine "aufgebauschte Gefühlsnichtigkeit", Herr Kessler...?

    Vielleicht sollte man Hermann einmal anders lesen als mit dem Tenor der Jahrtausendwendekritik, sie spreche mit dem "Sound einer Generation". Ich glaube, dass die sehr feinen, meinetwegen pastelligen Gefühlslagen und Lebenssituationen der Protagonisten auch in hundert Jahren noch verstanden werden können. Weil sie nichts mit dem Beruf, dem Umfeld, der konkreten Familiensituation einer Figur zu tun haben, weil sie nicht generationentypisch sind, weil sie nicht die großen Schilder benutzen, um sich hervorzutun, sondern menschliche Sehnsüchte und Abgründe beschreiben, die sich innerhalb des sogenannt Alltäglichen abspielen.