: Der allerletzte Rock ‘n‘ Roller
EUROPA Daniel Cohn-Bendit wird 68. Revolution, Parteien, Parlamente. Das hat er langsam alles durch. Aber die Show geht weiter. Er denkt jetzt ein bisschen größer. Drei Tage unterwegs mit dem bekanntesten europäischen Grünen
■ Leben: Daniel Cohn-Bendit wurde am 4. April 1945 in Südfrankreich geboren und besuchte später die hessische Odenwaldschule. Er war 68er-Revolutionär in Paris, Kinderladen-Erzieher und Sponti-Freund Joschka Fischers in Frankfurt. Er hat dort das linke Magazin Pflasterstrand gegründet, wurde 1984 Mitglied der Grünen und arbeitete von 1989 bis 1997 als ehrenamtlicher Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten im Magistrat. Seit 1994 sitzt er im Europäischen Parlament.
■ Wirken: Als Realo beriet Cohn-Bendit Joschka Fischer, den ersten grünen Umweltminister von Hessen. Als Multikulti-Dezernent schuf er die Kommunale Ausländervertretung, von Migranten gewählt. Als Europaparlamentarier zog er 2005 durch Frankreich, um für die EU-Verfassung zu werben.
■ Streiten: Vor allem aber liebt Cohn-Bendit den Konflikt. Ein paar Beispiele von Youtube: Cohn-Bendit vs. Hugo Chavez bit.ly/13sUaMe, Cohn-Bendit vs. Marietta Slomka bit.ly/g8Mnj8 und Cohn-Bendit vs. François Hollande bit.ly/1053teY
AUS BRÜSSEL UND PARIS PETER UNFRIED
Es ist kurz nach zehn an einem Dienstag, als Daniel Cohn-Bendit im achten Stock des Europäischen Parlaments in Brüssel Raum 205 betritt.
„Bonjour, bonjour“, sagt er zu den drei Frauen, die an Schreibtischen sitzen. Sein Büroteam. Eine Deutsche, eine Französin, eine italienischstämmige Belgierin. Alle drei deutlich jünger als er. Cohn-Bendit bleibt zwei Meter hinter der offen Tür stehen. Es müsse sofort ein Brief geschrieben werden! Er hat eine Tasche an der linken Schulter hängen und einen Rollkoffer in der rechten Hand. Hemd und Jackett tendieren ins Purpurne. Einige Leute hätten die Einladung offenbar nicht bekommen. Oder nicht öffnen können. Das Problem, keine Ahnung.
Es geht um seinen 68. Geburtstag am 4. April und die Geburtstagsfeier Anfang Mai in Paris, die unter dem Motto „Endlich ein 68er!“ steht.
Er wechselt zwischen Französisch und Deutsch hin und her, den Brief diktiert er auf Französisch. Man solle ihn auch ins Deutsche übersetzen.
Er stellt den Koffer in einen Abstellverschlag und geht mit seiner Tasche durch eine Verbindungstür in sein eigenes Büro. Als Fraktionsvorsitzender hat er repräsentativere Räume als der Rest und einen schönen Blick runter auf die bayerische Botschaft, ein Schlösschen, das Neuwahnstein genannt wird.
Cohn-Bendit setzt sich an einen aufgeräumten Schreibtisch, holt zwei Smartphones aus seinem Purpur-Jackett – eins für Deutschland, eins für Frankreich – und fängt gerade an, liebevoll darauf herumzudrücken, als ein mittelalter Mann das Büro betritt.
Er packt die Telefone weg und fängt an, italienisch zu sprechen. Es geht um sein Buch „Für Europa!“, das er am Abend einer italienischen Delegation vorstellen wird. Wer kein Italienisch kann, hört zumindest die ganzen Ausrufezeichen. Bis er plötzlich stockt.
„Wie sagt man Transmissionsriemen auf Italienisch, Cosima?“, schreit er durch die offene Tür zu den Frauen rüber.
„Keine Ahnung, ich weiß nicht mal, was ein Transmissionsriemen ist.“
„Du weißt nicht, was ein Transmissionsriemen ist?“
Da sagt sein Gast: „Cinghia di trasmissione?“
„Sì, sì, cinghia di trasmissione!“, ruft Cohn-Bendit.
Kaum ist der Italiener weg, kommen zwei Baskinnen, die ihn für die Aktion „Libérez Ines del Rio!“ gewinnen wollen. Del Rio sitzt lebenslang ein wegen Unterstützung der baskischen Terror-Organisation Eta. Eine der Frauen ist ihre Schwester. Am Ende posiert er mit ihnen für ein Handyfoto.
„Was jetzt?“, fragt er in das andere Zimmer rüber.
Schimon Peres will mit ihm zu Mittag essen. Der Friedensnobelpreisträger, Israels Staatspräsident. „Mein Freund Schimon“, sagt er. Dann lässt er sich erklären, wie er zu einem Treffen mit einer Schülergruppe aus Nordfrankreich kommt.
Die Schüler sind 14 oder 15 und ziemlich angespannt. In der Vorbereitung auf dieses Treffen haben sie gelernt: Daniel Cohn-Bendit, als „Dany le Rouge“, der rote Dany, prominentester Kopf der französischen Studentenunruhen von 1968, danach wegen „Störung der Ordnung“ ausgewiesen, was seinen Ruhm ins Maßlose steigert.
Geboren 1945 in Montauban, Südfrankreich, als Sohn deutscher Juden, die rechtzeitig vor den Deutschen geflohen sind. Der Vater linker Anwalt, die Mutter, als sie flohen, Jurastudentin. Seit 1994 ist „Dany le Vert“, der grüne Dany, abwechselnd für Frankreich und Deutschland im EU-Parlament und von Griechenland bis Lettland bekanntester Europa-Politiker und Protagonist des europäischen Traums.
„Dany, can you listen for a moment?“ Er langweilt sich
Der Traum, den er den Schülern jetzt erklärt, besteht darin, Europa auf die kommenden Krisen vorzubereiten. Eine Währung, eine Staatsbürgerschaft, eine Diplomatie, eine Armee. Nix mehr mit Nationalstaaten.
„Voila, c’est ça“, sagt er. Gelächter. Er schafft es binnen weniger Minuten, dass die Schüler sich wohl fühlen. Einer wagt sogar, ihn zu imitieren. Er steht auf, hebt die Stimme an, fuchtelt in der Gegend rum. Cohn-Bendit hört zehn Sekunden zu, dann zeigt er ihm, wie man richtig mit dem Zeigefinger fuchtelt.
Kurz nach zwölf betritt er den Petra-Kelly-Saal, den Versammlungsraum seiner Fraktion. „Grüne und Dingsbums“, wie er sie nennt. An den 52 Grünen hängen noch 7 Abgeordnete der European Free Alliance dran.
Er thront vorn in der Mitte auf dem Podium. Vereinzelt sitzen Abgeordnete oder Mitarbeiter im Saal. Er muss am Nachmittag in eine Verhandlung der Fraktionsvorsitzenden zum europäischen Haushalt. Nun soll er die Position abstimmen beziehungsweise kommunizieren, damit hinterher keiner klagt, ihm habe man mal wieder nichts gesagt. Im Grunde geht es darum, in der gemeinsamen Erklärung des Parlaments einen Satz der Grünen unterzubringen.
Nächste Sitzung. „Dany, can you listen for a moment?“, sagt die Generalsekretärin der Fraktion, eine Griechin namens Vula Tsetsi. Er berührt sie entschuldigend am Rücken. „Vula, Vula“, sagt er.
Er hört gern zu, aber ungern länger.
Dann geht es um die Frage, ob man eine Fraktionsklausur außerhalb Brüssels machen soll, zwei Übernachtungen. Und an welchem Abend dann die Party stattfindet. Er holt ein Telefon raus, aber der Tagesordnungspunkt wird so lange diskutiert, dass er sich trotzdem langweilt.
„It’s completely mad what you are all discussing here“, ruft er.
Dany sei ein miserabler Gesprächsleiter, der seine Launen auslebe, statt zu moderieren, und sich gern auf Kosten der eigenen Partei profiliere, sagt sein Fraktionskollege Sven Giegold etwas später in Zimmer 209. Das habe er ihm schon öfter gesagt. „Er ist immer irgendwie rebellischer Studi geblieben.“
Ach, der Sven, sagt zwanzig Meter entfernt Cohn-Bendit. Während andere denken, er denke nur an sich, hat er das Gefühl, sich dauernd zurückzunehmen.
Sein neues Buch heißt: „Pour supprimer les partis politiques!?“ Soll man die politischen Parteien abschaffen!? „Wir brauchen Parteien“, sagt er. „Aber ich halte sie nicht mehr aus.“ So ähnlich ist es mit dem täglichen Kleinkram in Brüssel. Er akzeptiert, dass das die Voraussetzung ist, um in den gegebenen Strukturen das Mögliche rauszuholen. Aber er braucht es nicht mehr.
Bei der Fraktionssitzung ist der Petra-Kelly-Saal dann voll. Keine Sonnenblumen weit und breit, keine Kinder werden gestillt, niemand strickt – es sei denn mit einer App.
Es geht um eine Strategie zur Agrarpolitik: „Diversifizierung und Fruchtfolge“. Der französische Star-Protest-Bauer José Bové redet, Cohn-Bendit gähnt vom Podium herunter. Sein ICE ist um 6.29 Uhr zuhause in Frankfurt losgefahren. Außerdem kennt er jeden Satz auswendig, bevor er ausgesprochen ist.
Auch die Diskussion zur Grünen-Kampagne für eine Revision der Honigrichtlinie elektrisiert ihn nicht, obwohl sie unter dem schönen Motto „Give bees a chance“ steht und er sich der Bedeutung des Bienensterbens sehr bewusst ist. Er drückt auf einem seiner Telefone herum.
Anfrage von Spiegel Online. Er soll was dazu sagen, dass Joschka Fischer nicht zu einer Feier der Grünen geht. „Keine Lust“, smst er. Aber keiner kenne den Ex-Außenminister so gut. Fischer und er sind Weggefährten seit den frühen 70ern. Erst kämpften sie beim „Revolutionären Kampf“ für den Sozialismus, dann bei den Grünen gegen die Linken. Er überlegt. „Ich bin nicht Joschkas Schwiegermutter“, smst er.
Vor dem Abendtermin isst er Nudeln in einem Restaurant in der Rue de Trevès, fünfzig Meter vom Parlament. Dazu ein Schluck Rotwein.
„Diese Woche sind 38 Millionen im Lotto-Jackpot“, sagt er plötzlich. Er spielt jede Woche. Dabei interessiert er sich nur mäßig für Geld. Aber er weiß, dass er eines Tages groß gewinnen wird. Ganz groß.
„Ich bin überzeugt, dass ich als Kind in einen Topf mit Zaubertrank gefallen bin wie Obelix und dass ich immer Glück habe“, sagt er. „Und das beinhaltet den großen Lottogewinn.“
Jeden Sommer ist er mindestens sechs Wochen in Südfrankreich in seinem Haus. Vor anderthalb Jahren rief ihn dort sein Arzt an. Schilddrüsenkrebs. Operation. Glück gehabt. „Wenn man sich einen Krebs raussuchen könnte, dann diesen“, sagt er.
Einerseits hat ihn das in seinem Selbstvertrauen bestätigt. Andererseits hat es seine Entscheidung vorangebracht, etwas anderes zu machen. Auch die Aussicht auf einen weiteren Wahlkampf brachte ihn nicht mehr in Stimmung.
In Deutschland fehlt ihm eine Sporttageszeitung
Er ist gern auf Tour, aber er hat auch immer darauf geachtet, drei Tage die Woche mit seiner Frau Ingrid zuhause in Frankfurt zu verbringen. 1990 wurde ihr Sohn geboren. Heiraten kam für ihn aber nie in Frage. Bis sie ihn heiratete. Im Sommer wird sie als Lehrerin aufhören. Die Idee ist, mehr Zeit zusammen zu verbringen.
Am Anfang glaubten sie ihm in Brüssel nicht, dass er im kommenden Jahr wirklich aufhören will. Es brauchte um die dreißig Abendessen, bis sie es kapiert hatten.
Am nächsten Tag um 9 Uhr frühstückt Cohn-Bendit im Café Tout Bon am Place Lux, ein paar Schritte vom Parlament entfernt. Er sieht besser aus als tags zuvor, was vermutlich daran liegt, dass er keine violetten Kleidungsstücke anhat. Er trägt auch heute keine Krawatte, weil er nie Krawatte trägt. Liest L’Equipe, die französische Sporttageszeitung, fantasiert über Champions-League-Chancen seiner Eintracht.
„Eine Sporttageszeitung fehlt in Deutschland“, brummt er, und dass er Gruner + Jahr mal dazu habe bringen wollen, eine zu gründen. Aber die hätten mit dem Hinweis auf Bild und deren Fußballberichterstattung abgewinkt. Versteht er nicht. „Das kann man doch schlagen.“
Auf dem Weg in den achten Stock trifft er Joseph Daul, den Elsässer Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei, das ist die mit 271 Abgeordneten und 45 Parteien größte Fraktion im Parlament. Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch über den anstehenden Haushalt und was alles („C’est fou!“ – „C‘est fou!“) verrückt ist. Giegold hastet grüßend vorbei.
In seinem Büro findet Cohn-Bendit eine Interviewanfrage der Stuttgarter Nachrichten. Erst hat man ihm den Theodor-Heuss-Preis angetragen. Und dann gibt es Protest dagegen. Einige Sätze sind wieder hochgekommen, die er 1975 in dem Buch „Der große Basar“ über Kinder gemacht hat, die Beziehungen zu ihm erotisch aufgeladen hätten – und dass er das zugelassen hätte. Das fällt in die sogenannten „Sponti-Jahre“, die 70er, in denen er mit Fischer Straßenkampf organisiert, sich von der Gewalt der RAF distanziert, Bücher verkauft, das linksalternative Magazin Pflasterstrand gründet – und eben auch als Erzieher in antiautoritären Kinderläden arbeitet.
2001 wurden die Passagen von der Öffentlichkeit erstmals problematisiert. Ein Indiz, dass die Gesellschaft sich weiterentwickelt hatte. Die Eltern der Kinder entlasteten ihn sofort, er entschuldigte und distanzierte sich von den als „Provokation“ gedachten Sätzen. Doch seitdem muss er sich rechtfertigen. Wenn man ihn googelt, landet man ruckzuck bei „Cohn-Bendit Kinderschänder“. „Die Geschichte holt mich immer wieder ein“, sagt er genervt.
Er hält es für redundant, dass jedes Mal aufs Neue so getan wird, als würde etwas Geheimes endlich aufgedeckt. Dabei war es nie geheim, sondern in acht Sprachen erschienen.
Er ruft ins Vorzimmer, man solle ausrichten, ein guter Journalist könne alles komplett im Internet recherchieren. Er kniet jetzt auf dem Boden seines Büros und steckt das Ladegerät seiner Telefone in eine Steckdose.
„Man muss sich keine Illusionen machen“, seufzt er. „Es gibt Leute, die mich zutiefst hassen.“
Manch marxistischer Linker wollte ihn schon in den 70ern „an den nächsten Baum“ befördern. Die Grünen-Gründer um die frühere Parteichefin Jutta Ditfurth verließen die Partei auch wegen Cohn-Bendit. Er habe nachhaltig widerständige Milieus durch seine Anpassungsstrategien an die herrschenden Verhältnisse zerstört – zum Nachteil der Schwachen. Für Radikalpazifisten ist er ein Kriegstreiber. 1994 wollten die Parteilinken Claudia Roth und Jürgen Trittin ihn deshalb als Europaparlamentarier verhindern. Für Konservative ist er erst recht eine unerträgliche Provokation.
Ideologieübergreifend wird er als Nervensäge und Besserwisser geschmäht.
Seine Veränderungen seien für andere Identitätsangriffe, also bedrohlich. Deshalb würde Weiterdenken und Verlassen von Positionen als Verrat interpretiert, findet Cohn-Bendit. Er betrachtet das als positive Entwicklung. „Ich habe immer gesagt, ich bin ein nachhaltiger Verräter.“
Er selbst sieht übrigens niemanden als Feind. Da können andere ihn als Feindbild pflegen, so sehr sie wollen.
Es piepst. Eine Mail.
„Bob Dylan kommt nicht“, ruft er ins Vorzimmer. Der Meister lässt ausrichten, dass er am Tag der Geburtstagsparty bereits in Charleston, South Carolina, auftrete.
Am Nachmittag lässt Cohn-Bendit sich vom Fahrdienst zum Gare Midi fahren. Er will nach Paris in eine Fernsehsendung von Canal Plus. Sobald er in den plüschigen Sitz des Thalys-Zugs geplumpst ist, checkt er seine Telefone. Aber der Mitreisende schräg gegenüber sagt: „Dany?“ Er antwortet: „Oui?“
Die junge Frau tut, als habe er sie geschwängert
Dann wird er mit dem Finanzierungsproblem eines Unternehmens konfrontiert, das die EU lösen soll. Cohn-Bendit gibt dem Mann seine E-Mail. Während er durch den Gare du Nord zu dem Auto geht, das ihn abholt, schauen ihm mindestens fünf Menschen hinterher. Ein Mann ruft: „Du darfst nicht aufhören, Dany!“ Er lächelt und bedankt sich. Er freut sich immer, wenn die Leute ihn erkennen.
Als die Limousine auf der Avenue de New York durch den Tunnel fährt, in dem Lady Diana verunglückte, kriegt er einen Anruf. Er soll im britischen Unterhaus sprechen. Da war er noch nie. Thema Medienkonzentration in Ungarn. „Hugh Grant kommt auch“, sagt er eher unbegeistert.
Im Fernsehstudio von Canal Plus wissen sie schon, dass er sich nicht schminken lässt. Nie. Er fährt sich einmal durch die Haare. Das reicht. Die Sendung heißt „Le Grand Journal“, läuft unverschlüsselt und live von 19 bis 20 Uhr und ist ein einstündiger Mix aus Nachrichtenanalyse und Unterhaltung, wie es ihn in Deutschland nicht gibt. Cohn-Bendit soll die politische Leistung des verstorbenen Hugo Chavez und die Chancen von Paris St. Germain in der Champions League einordnen. Was die Bewertung des verstorbenen venezolanischen Staatspräsidenten angeht, muss er sich mit Eric Coquerel duellieren, Generalsekretär der linken Parti de Gauche, PG, und ein Chavez-Apologet.
Cohn-Bendit bringt sich in Stimmung, indem er Coquerels Hymnen auf Chavez mit den Zwischenrufen „Oh, Chéri“ und „Ah, Camarade“ kommentiert. Oh, Liebling und ach, Genosse.
Während der Linke stoisch seinen Stiefel runterredet, zählt er immer heftiger mit dem Zeigefinger fuchtelnd die aus seiner Sicht problematischen Freunde des „totalitären Autokraten“ auf. „Ahmadinedschad, Gaddafi, Castro“, schreit er mehrfach. In der Werbepause klopft er Coquerel lächelnd auf den Rücken.
Am Ende der Sendung kommt eine Wetterfee namens Doria. Sie ist Mitte zwanzig, sieht aus wie Miss Frankreich, trägt ein Kissen unterm Kleid und insinuiert, Cohn-Bendit habe sie geschwängert. Er lächelt freundlich, als sie sich den Busen zurechtschiebt.
Das sei ganz witzig, sagt er hinterher in einer Brasserie am Gare du Nord. Ein Running Gag. Jedesmal, wenn er in der Sendung sei, werde er von ihr wegen seiner angeblichen ewigen Jugend auf den Arm genommen.
Er ist jetzt aufgekratzt, er isst ein Steak mit Pommes frites und Bohnen und nippt ab und zu an einem Glas Rotwein. Zwei Tische weiter sitzt eine ältere Frau, die den Mund nicht mehr zugekriegt hat, seit er hereingekommen ist. Am Nebentisch essen sie Austern. Das erinnert ihn daran, dass die marxistischen 68er in Deutschland den Reichen die Austern wegnehmen wollen. Er sagte ihnen, das sei zu kurz gedacht. Er wolle „Austern für alle“.
Aber das verstanden sie nicht.
Am Bahnhof kauft er noch ein paar Zeitungen. Im Thalys zurück nach Brüssel holt er die Telefone raus und erledigt die während der Sendung verpassten Anrufe. Einmal wird seine Stimme ungewohnt kuschelig. Seine Frau. Einmal wird sie auf eine andere Art weich. Sein Sohn hat eine Uni-Klausur bestanden.
Danach blättert er im Nachrichtenmagazin L’Express. Sein Buch ist von null auf drei in die Bestsellerliste eingestiegen. Hinter dem Rock ’n’ Roller Johnny Hallyday. Aber vor dem Fußballer Zlatan Ibrahimovic. Dabei fällt ihm ein, dass Paris St. Germain gerade spielt. Er nimmt ein Telefon und verfolgt die Champions League im Live-Ticker. Er sieht jetzt zum ersten Mal richtig geschafft aus. Er schläft ein.
Nach kaum fünf Minuten piepst eines der Telefone und sofort ist er wieder da.
Am nächsten Morgen sitzt er an seinem Schreibtisch. Hinter ihm verkündet eine vergrößerte Titelseite der Libération vom April 1980 den Tod von Jean-Paul Sartre. Der bedeutendste französische Philosoph des 20. Jahrhunderts interviewte ihn im Mai 1968 in seiner Pariser Wohnung für Le Nouvel Observateur, um sich die Revolte erklären zu lassen. 1974 nahm er ihn als Dolmetscher mit in den Hochsicherheitstrakt von Stammheim, als er den RAF-Terroristen Andreas Baader besuchte. „Ich muss hier raus“, ruft Cohn-Bendit.
Das ist aber offenbar nicht akut besorgniserregend, denn die Antwort aus dem Vorzimmer ist, dass das Badische Tagblatt am Telefon sei und dass man jetzt durchstelle.
Er seufzt und nimmt den Hörer ab. Es hat sich nach Baden-Baden herumgesprochen, dass er nächstes Jahr das EU-Parlament verlässt und da will das Tagblatt wissen, was er denn dann macht.
Meist erzählt er von dem Film, den er bei der WM 2014 in Brasilien drehen wird. Diesmal ruft er nur: „Ich muss etwas erfinden. Irgendwas wird mir schon einfallen.“
Offenbar wird nach seinem anstehenden Geburtstag gefragt, denn er sagt: „Wenn die Leute mich fragen, ob ich immer noch ein 68er bin, dann kann ich jetzt sagen: Ich bin endlich einer geworden.“ Man hört an seiner Stimme, dass er sich langweilt. „Parteien fühlen sich von neuen Ideen bedroht“, sagt er. Und auf Nachfrage: „Ja, meine auch.“ Pause.
„Meine Rolle ist nicht mehr, Ideengeber einer Partei zu sein. Sondern der Gesellschaft.“
Dann sagt er, er müsse jetzt in eine Sitzung und legt auf. „Journalisten!“, ruft er.
Außerdem muss er wirklich in eine Sitzung. Die europäischen Grünen-Spitzen wollen die Strategie für die kommenden Wahlkämpfe in ihren Ländern besprechen. Die Aussicht trübt seine Laune extrem.
„Ich nehm was zum Lesen mit“, brummt er. Dann packt er Unmengen von Zeitungen in seine Umhängetasche.
Als er drei Stunden später zurückkommt, bringt er keine strategischen Ergebnisse mit. „Keine Ahnung, ich bin vorher gegangen“, sagt er.
Er muss zum Literaturfest LitCologne. Um acht beginnt seine Veranstaltung in Köln. Er schnappt seine Umhängetasche und den Rollkoffer. Am Freitag hat er noch was anderes in Köln und fährt dann von dort direkt nach Hause. Wieder Fahrdienst zum Gare Midi. Kurzer Stopp in einer Bar. Er nimmt Cola light, wie meistens nachmittags.
Der Programmchef von Canal Plus ruft an. Alle seien begeistert, er mache ihm jetzt ein Rundumangebot. Filme, regelmäßige Teilnahme an der Nachrichtenshow, dies und das. Geld spielt offenbar bei Canal Plus keine Rolle.
„Bei mir spielt Geld auch keine Rolle“, sagt Cohn-Bendit, nachdem er aufgelegt hat. Er mag Canal Plus. Er will ein neues Gesprächsformat erfinden. Aber er will ja nicht nach Paris ziehen. Er hat ja mehrere Angebote. Und das Gefühl, dass er am besten zu Arte passen würde.
„Vielleicht mache ich auch gar nichts“, sagt er.
Dann steht er an Bahnsteig 6. Aber der Thalys kommt nicht. Angeblich zehn Minuten später. Er geht sofort auf Recherche. Kommt zurück: Triebschaden an der Lok, das kann dauern. Er steht auf dem Bahnsteig, fummelt an den Telefonen und wirkt wie ein Formel-1-Motor im Leerlauf. Am Gleis gegenüber fährt ein ICE ein. Doch die Türen sind verschlossen.
Ein Mann kommt zu ihm und sagt, er solle sie öffnen lassen, er sei doch mächtig. „Da endet auch meine Macht“, sagt er.
Die Shuttle-Limousine bringt ihn mit der Verspätung einer halben Stunde zum Veranstaltungsort in der Südstadt. Am Eingang erwarten ihn die Kameras der ARD-„Tagesthemen“, er sagt schnell noch was und dann zieht er unter Beifall in die ausverkaufte Halle ein. Er wird als Revolutionär von 1968 vorgestellt und soll mit einem dreißigjährigen Bürgerprotestler von heute diskutieren. Seitenscheitel, übliche Brille, übliche Sätze. Alle korrekt, aber nicht mehr.
Parteien hält er nicht aus, Parlamente nur schwer
Cohn-Bendit bringt das Publikum routiniert binnen weniger Minuten in Stimmung, aber er kann sich selbst nur schwer hochfahren, denn es gibt keinen Gegner weit und breit. Einmal keilt er notgedrungen gegen die Moderatorin aus, als sie davon spricht, dass man „den Kapitalismus bändigen“ müsse. „Ich kann es nicht mehr hören“, ruft er. „Seit fünfzig Jahren versuche ich zu verstehen, wie man den Kapitalismus bändigen könnte. Es ist mir nicht gelungen.“
Daniel Cohn-Bendit, der seinen Ruhm der romantischen Glorifizierung des Protestes verdankt, will die Institutionen weder von außen, noch von innen zerstören. Er will für seine Positionen gesellschaftliche und politische Mehrheiten gewinnen. Er hält vielleicht Parteien nicht mehr aus und Parlamente nur noch mit größter Anstrengung und auf seinem Stockwerk rufen sie, er sei ja nie wirklich in den Institutionen angekommen, sondern eine One-Man-Show: Aber er ist nach zwanzig Jahren in der Maschine auch ein beinhart überzeugter Parlamentarier.
Trotzdem besteht seine politische Leistung nicht in einer EU-Verordnung, die Nr. 1677/88 oder so heißt. Er würde so was sagen wie: Meine Erfahrungen als Parlamentarier haben sich zu einer Sensibilität für Europa entwickelt, die sich über Interventionen im Plenum und entsprechende Youtube-Videos in ganz Europa weiterverbreitet haben.
„Ich habe nie an die Revolution geglaubt“, sagt er nach der Diskussion in der Shuttle-Limousine Richtung Dom. Er sei auch nie Marxist gewesen. Was er damals allerdings anders sah. „68 war ein Fest, eine emotionale Revolte. Da bricht etwas auf, das viel weiter geht, als das, worauf eine politische Bewegung fixiert ist. Aber das dauert. Wir haben das ziemlich gut übergeführt von einer libertären, radikalen Position zu einer politischen Handlungsfähigkeit.“
Während der dicke Audi durch die Kölner Nacht surrt, erzählt er, wie die RAF-Anführer Ensslin und Baader nach ihrer Kaufhausbrandstiftung 1968 aus dem Knast kamen und anfingen, mit entprivilegierten Lehrlingen die Rote Armee Fraktion aufzubauen, um die bürgerliche Gesellschaft wegzufegen und wie er, der zuvor solidarisch gewesen war, sich darüber in einem Studentenwohnheim in Frankfurt mit ihnen zerstritt.
„Der Hass der Erniedrigten wird die Herrschenden wegpusten“, schrie Baader. „Du, lass die doch lieber einen saufen gehen und leben“, antwortete Cohn-Bendit. Er sei ein Opportunist im Dienste seiner Lebenslust. Das hat ihm den Hass der Verhärteten eingebracht – und das hat ihn selbst nicht verhärten lassen.
Am Tag davor hat er in einem ähnlichen Kontext auf die Frage geantwortet, was von seinen Träumen von damals geblieben ist. Da sitzt er in seinem Büro, aber diesmal auf dem Sofa, und deshalb blickt er direkt auf das Poster eines berühmten Bildes, das ihn zeigt, wie er im Frühjahr 1968 in Paris einen Stahlhelm tragenden Bereitschaftspolizisten anlächelt. Das ist bei allem Geschrei bis heute der Grundton seiner persönlichen Revolte. „Das Entscheidende, was bleibt“, sagt er. „Man wird nicht nur vom Rad der Geschichte gedreht, man kann daran drehen, Peter. Du kannst, man kann, ich kann Geschichte machen und entscheidend verändern.“
Seine Eltern versteckten sich jahrelang vor den Nazis. Ohne Zukunft, außer dem KZ. Und in der ersten Nacht, nachdem die Alliierten in der Normandie gelandet waren, zeugten sie ihn. Wann immer man ihn seit seiner Befürwortung des westeuropäischen Kriegseinsatzes in Bosnien als Bellizist beschimpft und sagt, es sei noch nie etwas Gutes aus einer militärischen Intervention entstanden, dann entgegnet er: „Doch. Ich.“
Und falls er doch nicht der Gute sein sollte, so ist er immerhin kein Opfer und kein Verlierer.
Jetzt springt er vom Sofa auf, tritt an die offene Tür zum Zimmer seiner Mitarbeiterinnen, und keiner weiß, warum, aber nun beginnt er auch noch zu singen. „Non, rien de rien“, singt Daniel Cohn-Bendit, „non, je ne regrette rien.“
Die Frauen tun, als sei das ganz normal.
■ Peter Unfried, 49, ist taz-Chefreporter. Er kennt Daniel Cohn-Bendit seit 1996