: Rauchzeichen am Berg
Auf der Kräuteralpe Hörmoos gibt es noch das Ausräuchern in den Raunächten
Der Weg hinauf zur Hörmoosalpe ist im Tiefschnee beschwerlich und lang, aber er ist auch faszinierend. Es geht quer durch eine malerische Winterlandschaft, mitten durch ein Skigebiet bei Steibis nahe Oberstaufen. Die mächtigen Fichten im Bergwald sind schneebedeckt, Eiszapfen künden von kalten Bergnächten. Die Eiskristalle funkeln in der Sonne. Nach einem langen Fußmarsch oder einer deutlich flotteren, aber eiskalten Fahrt mit dem Motorschlitten sieht man schließlich oben auf 1.300 Metern Höhe einen Berggasthof und daneben die Kräuteralpe von Michael und Gerda Schneider.
Mit einem verschmitzten Lächeln und funkelnden Augen, die unter der Krempe des Allgäuer Filzhutes hervorblinzeln, empfängt Michael Schneider den Besuch aus dem Tal. Der Mann gilt inzwischen weithin als Kräuterexperte, züchtet in seinem Bergkräutergarten 140 verschiedene heimische Kräuter. Und diese Kräuter spielen eine wichtige Rolle bei der Zeremonie, die Schneider seit einigen Jahren zwischen Weihnachten und Dreikönigstag praktiziert.
„Hier wachsen die Pflanzen, mit denen wir zwischen den Jahren unser Haus ausräuchern“, erklärt er. In den Allgäuer Bergen war das immer ein fester Bestandteil der Raunächte, die hier oft auch Rauchnächte genannt werden.
Michael Schneider, der längst zum in über 1.000 Metern Höhe üblichen „du“ übergegangen ist, erzählt von der Bedeutung der Rau- oder Losnächte. Zuschlagtage sind die zwölf Nächte. Sie gehen von Weihnachten bis zum 6. Januar. Früher sollten sie den unterschiedlichen Rhythmus zwischen dem 354 Tage dauernden Mondjahr und dem 365 (366) Tage dauernden Sonnenjahr ausgleichen. Sechs dieser zwölf Tage waren zum Aufarbeiten des Vergangenen und fürs Loslassen gedacht, die folgenden sechs Tage dazu, sich auf das Neue vorzubereiten. In dieser Zeit, wenn auch die Mägde und Knechte ein paar ruhige Tage hatten, in dieser Zeit, in der das Wechselspiel von Licht und Schatten besonders deutlich spürbar wurde, galt es, sich vor allzu stürmischem Treiben der Percht zu schützen, jener Berg-, Winter- und Unterweltgöttin, die zwei Gesichter besitzt und die man auch als Frau Holle kennt.
Feste Verhaltensregeln gibt es für die Zeit „zwischen den Jahren“. An Winterjohanni zum Beispiel, das ist am 27. Dezember, mussten der Überlieferung nach junge Frauen an das Hühnerhaus gehen und klopfen. Antwortete der Hahn, dann heiratete das Mädchen noch im kommenden Jahr. Oder die Sache mit dem Spiegel: Wer sich mit zwei brennenden Kerzen in den Händen in der Silvesternacht vor einen Spiegel stellt und laut seinen Namen ruft, kann das Bild seiner Zukünftigen im Spiegel sehen. Jedem der Lostage wird eine ganz besondere Bedeutung zugeschrieben. So galt der erste Dienstag der Raunächte als Glückstag für alle, die an diesem Tag heiraten. Am Sonntag musste man die Obstbäume prügeln, damit sie im nächsten Jahr gut Früchte tragen. Schier unendlich ist die Liste, was man tun und was man tunlichst unterlassen soll.
„Bei uns hier oben konzentrieren wir uns auf das Räuchern“, sagt der Kräuterfachmann von der Hörmoosalpe. „Die anderen Bräuche erzählt man sich an den langen Winterabenden.“ Dann ist es endlich so weit. Die feierliche Zeremonie beginnt. Er holt eine kleine Messingschale, die mit Quarzsand gefüllt ist, und entzündet ein Stück Räucherkohle. Dann streut er getrocknete Kräuter über die Flamme, weißer Rauch steigt auf, und ein Duft von Wacholder, Fichtenharz und Lavendel breitet sich aus. Mit einer großen Adlerfeder wird der Rauch verteilt. Fast andächtig trägt der bärtige Allgäuer die Schale in den ersten Kellerraum. „Alles muss immer rechts herum gehen“, erklärt er. Dann geht es Zimmer für Zimmer durch die Kräuteralpe, wie die Alm im Allgäu genannt wird. Noch scheint draußen die Sonne, reflektiert der Schnee tausende von Kristallen. Tagsüber wird zuerst das Haus durch den Rauch gereinigt. Nach dem ersten Durchgang werden alle Fenster geöffnet, damit das Alte und Verbrauchte hinauskann. Als die Prozedur abgeschlossen ist, bittet der Rauchmacher in die gute Stube. Er erzählt, dass später, nach Einbruch der Dämmerung der zweite Teil des Räucherns folgen wird, und das hat dann viel Mystisches. Da wird dann nicht mehr durch das ganze Haus gelaufen. „Das ist dann eher der Teil des Orakelns, man blickt durch den Rauch und schaut auch ein wenig in die Zukunft“, erklärt Michael Schneider. Der Ofen knistert, und der Schneider-Michael erzählt davon, dass jahrelang solche Rituale wie das Räuchern in aller Stille erledigt wurden, dass das oft sogar ohne Wissen der nächsten Nachbarn geschah. Inzwischen ist es stockdunkel geworden oben auf’m Berg. Ein kalter Dezemberwind pfeift ums Haus. Jetzt nur nicht nach draußen gehen. Es könnte ja sein, dass die Erdgöttin Percht mit ihrer wilden Schar nun wieder ihr Unwesen treibt.
Durch den Qualm hindurch dringt Michael Schneiders Stimme – die Wilde Percht könne heute Nacht noch so ums Haus toben. Hier sei alles gerichtet. „Das Christkind kann kommen!“
KLAUS WITTMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen