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Archiv-Artikel

Die Ampel ist rot. Ich trete!

RASEN Steigt unser Autor aufs Rad, packt ihn die Wut. Auf Autos, auf Passanten, sogar auf andere Radler. Er ist sicher: Als Kampfradler ist er nicht allein. Aber woher kommt diese Aggression? Ein Besuch beim Therapeuten

Radparadies Kopenhagen

■ Vorbild: Kopenhagen gilt als Radhauptstadt der Welt: Ein Drittel der Kopenhagener fahren mit dem Rad zur Arbeit. Bis 2015 sollen es sogar 50 Prozent werden. Es gibt in der Stadt mehr Räder als Einwohner, nämlich 560.000. Die Radpolitik ist seit 2001 ein Schwerpunkt der Stadtverwaltung. Die „Kopenhagenisierung“ hat andere Städte wie Melbourne oder New York inspiriert.

■ Vorfahrt: Sonntags dürfen gar keine Autos in die Innenstadt von Kopenhagen. In der dänischen S-Bahn kann man sein Fahrrad gratis mitnehmen. Bei Schnee werden die Radwege zuerst geräumt. Im April 2012 wurde eine 17 Kilometer lange Radautobahn als „Superhighway“ mit Luftpump-Stationen und Rad-Raststätten eröffnet.

VON JOHANNES GERNERT

Unter mir fließt der Asphalt vorbei, immer schneller, rechts die Autotüren, blau, weiß, rot. Ich trete die Pedale im Takt. Autotür, Autotür, Autotür. Grün, blau, gelb. Bleibt, bloß, zu. Motoren rauschen. Leises Busgrollen. Ein Hauch Diesel. Links von mir der breite weiße Streifen, der uns trennt. Fahrräder, Autos. Ich, die. Der Himmel vorne blau, über den U-Bahn-Schienen.

Der Wind massiert meine Schläfen. Der weiße Streifen biegt sich. Rüber auf den Radweg.

Und dann: Bushaltestelle. Fußgänger. Menschen. Gefahr.

Weg, weg. Weg da!

Plastiktüten hängen am Rand des Fahrradwegs von Händen, von Armen. Wie ruhende Pendel, die jederzeit nach vorne schießen könnten. Auf mich zu.

Ich trete mich vorwärts, schneller. Bleibt weg. Ding, ding, ding. Hört ihr’s nicht?!

Weg, weg, weg. Weg da!

„Erzählen Sie einfach, was Ihr Problem ist“, sagt mein Therapeut.

Wir sitzen in Korbstühlen in einer Frankfurter Altbauwohnung. Die Dielen sind breit, die Wände weiß, durch die Rollläden fällt ein wenig Licht. Draußen kann ich einen Kirchturm sehen. Mein Therapeut hat angenehm lange, fast weißgraue Haare. In der Ecke steht eine Couch.

„Ich beschäftige mich mit Aggressionen auf dem Fahrrad“, sage ich.

Und während ich das sage, merke ich, wie sehr es klingt, als hätte das alles nichts mit mir zu tun.

Es ist jetzt wieder Frühling, der lange Winter ist vorbei, und auf den Straßen von Berlin, von Frankfurt oder München beginnt wieder das, was manche Krieg nennen, oder wenigstens Kampf. Autofahrer gegen Radfahrer gegen Fußgänger gegen Radfahrer gegen Autofahrer. Wir gegen uns.

In der Kriegsberichterstattung, die der Bundesverkehrsminister im vergangenen Herbst maßgeblich geprägt hat, ist immer wieder von Kampfradlern die Rede. Von Menschen wie mir. Er wolle der Verrohung dieser Kampfradler Einhalt gebieten, hat Dr. Peter Ramsauer gesagt.

Seitdem denke ich noch mehr über mein Leben als Kampfradler nach, darüber, wie es so weit kommen konnte.

Ich bin offenbar ein Problem, das Verkehrsministerium hat härtere Strafen für mich eingeführt. Fünf Euro mehr zahle ich seit April, wenn ich etwa falsch herum auf dem Radweg fahre, macht zwanzig Euro.

„Die Politik und die Gesellschaft müssen wieder mehr Moral herstellen“, hat der Präsident des ADAC gesagt, gegen die Aggression des Einzelnen.

Vielleicht sind nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern bin auch ich gefragt. Der Einzelne.

Ich habe mir deshalb einen Therapeuten gesucht, mit dem ich über meine Aggression sprechen will.

Manches scheint sich ja ganz einfach zu erklären: Wenn man sich die Zahl der Fahrradfahrten in Deutschland ansieht, dann ist das eine Kurve, die steigt – in den vergangenen beiden Jahren sogar fast senkrecht nach oben. Und wenn man durch Stadtteile wie Prenzlauer Berg in Berlin, durch Schwabing in München oder Eimsbüttel in Hamburg fährt, dann stehen an schönen Tagen manchmal so viele Radler vor den Ampeln, dass es aussieht wie eine Fahrraddemo.

Die Zahl der Radfahrer wächst sehr schnell, die Zahl der Radwege wächst deutlich langsamer nach. In Berlin sind von 2000 bis 2011 immerhin 100 Kilometer neue Radstreifen angelegt worden, hat der BUND kürzlich festgestellt. Aber im BUND-Fahrradplan sind trotzdem viele Straßen grau wie: kein Streifen für Radler. Da, wo kein Platz für solche Radstreifen ist, wird es eng, und wo es eng wird, gibt es Ärger. Da fangen die Leute an zu schreien und zu schlagen und zu spucken. Leute wie ich.

Die Ampel ist grün. Der Asphalt fließt. Die Ampel ist orange. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Ich trete. Die Ampel ist orange. Dreiundzwanzig. Der Asphalt schießt. Letzter Gang. Widerstand. Schweiß am Rücken. Orange. Vierundzwanzig.

Oran…, oh, rot, egal. Die Ampel ist rot. Ich trete.

Da bewegen sich Menschen. Rechts bewegen sich Menschen, die haben jetzt Grün. Die Ampel war rot. Rechts haben sich Menschen be-wegwegwegt. Vorbei.

Mein Therapeut sieht mich an: Erzählen Sie mal.

Ich versuche einen neuen Anlauf. Es geht um diese aggressive Grundstimmung auf dem Fahrrad, sage ich. Eine Kollegin, die das Gefühl kennt, nennt es Fahrradtourette. Ich scheine damit also nicht allein zu sein. Man schimpft in Gedanken los, auf Fußgänger etwa. „Man antizipiert schon so, dass diese Idioten wieder auf den Fahrradweg springen werden“, sage ich.

„Hm“, sagt mein Therapeut.

„Man ist innerlich nicht bereit, zu akzeptieren, dass das ein kurzer Schritt ist.“ Ich überlege jetzt vor mich hin. In sein Schweigen hinein. „Also dass man das selber ja auch macht.“

„Ein kurzer Schritt“, sagt mein Therapeut. „Das ist eine interessante Formulierung, was meinen Sie damit?“

„Der Schritt des Fußgängers auf den Fahrradweg. Das ist eine Unachtsamkeit, die ich doch auch ständig begehe.“

Ich erzähle ihm diese Episode aus meiner Kindheit. Ich war neun, oder zehn vielleicht, und meine Eltern zerrten mich von einem Fahrradweg in Berlin-Wilmersdorf, weil ein Radler angeschossen kam. Er hat sich umgedreht und gebrüllt, als er vorbei war, in meiner Erinnerung.

Wie seltsam das ist, dass ich der Fußgänger sein kann, den ich wegbrüllen möchte.

Mir kommt einer entgegen, auf dem Rad. Ich rase auf der richtigen Seite. Ich rase weiter.

Und dann: eine Straße, quer. Ein Auto, von links. Achtung, Rechtsabbieger.

Ich drehe mich hin. Siehst du mich? Ich bremse nicht, ich trete. Sieh mich jetzt!

Es sieht mich. Er, sie. Wieder allein im Wagen, wa. Alleinfahrautos mit voller CO 2 -Power. Ich trete. Pe-da-le! Olé!

Platz, Auto. Sitz, Auto. Brav! Gutes Auto.

Bevor ich zum Therapeuten fahre, rufe ich noch einmal beim ADFC an. Der ADFC ist der ADAC für Radfahrer.

Wie viele Kampfradler gibt es in Berlin?

Die Pressesprecherin überlegt viel weniger lang, als ich erwartet hätte.

„Höchstens 1 Prozent“, sagt sie dann.

Das Wort sei eine doofe Polemik von Peter Ramsauer. Die Verhältnisse würden die Menschen zu Kampfradlern machen. Die Infrastruktur.

So wenige sind wir, frage ich, etwas enttäuscht. Weniger als 1 Prozent. Es werden doch 15 Prozent aller Wege in Berlin mit dem Rad zurückgelegt. Nur 1 Prozent Kampfradler? Ich dachte, ich sei gar nicht so allein.

Die Pressesprecherin lacht ein bisschen. Wenn man als Radfahrer ständig Rot habe, während die Autos bei Grün fahren dürfen; wenn man anhalten müsse oder ausweichen, weil ein Auto auf dem Radweg steht, „dann ärgert man sich natürlich“, sagt sie. Ohnehin gebe es eine gewisse Grundaggression im Straßenverkehr. Aber viele seien es nicht.

Im Übrigen existierten auch Kampffußgänger, die den Radfahrern Stöckchen in die Speichen steckten.

So argumentieren Menschen, die sich im Recht fühlen. Mag sein, dass ich mich falsch verhalte. Aber ich verhalte mich nur falsch, weil … Ich verhalte mich also völlig zu recht falsch. Und die anderen sind noch viel schlimmer.

Wir halten nicht an Ampeln, weil die Ampeln verdammte Autoampeln sind. Wir fahren auf dem Fußweg, weil auf dem Radweg ein Auto parkt oder parken könnte. Wir hauen den Autos mit voller Wucht aufs Kofferraumblech, weil sie schon wieder gerade noch so beim Rechtsabbiegen gebremst haben. Wir spucken dem DHL-Van gegen die Seite, weil er uns nicht gesehen hat. Wir brüllen. Hey! Mann! Arschloch! Arschlochautowichser!

Was heißt wir. Ich.

Ich muss doch gerade zur Arbeit. Ich rette doch gerade die Umwelt. Ihr Autoarschis.

Ich bin das Opfer, ihr verdammten Dreckschleudernsteuerer. Macht! Jetzt! Platz! Ihr Weltuntergangspiloten!

Wie geil. Gerechte Aggression fühlt sich gut an, wenn man mal ehrlich ist. Also ich.

Man könnte jetzt natürlich überlegen, ob es demokratietheoretisch eher geboten wäre, sich in einem ADFC-Ortsverein zu engagieren, für breitere Radstreifen, für mehr von ihnen. Statt zu brüllen. Oder im Bezirksparlament für fahrradfreundlichere Politik zu protestieren.

Aber brüllen ist deutlich weniger mühsam und macht auch mehr Spaß.

Einmal, wir ziehen gerade um, fahre ich mit einem kleinen Bus über die Straße, die ich sonst immer mit dem Rad nehme. Es ist Frühling, die Sonne scheint. Ständig schießen von hinten Fahrräder an mir vorbei, viel zu nah, drängen sich an Ampeln an meinem Kotflügel entlang, als wollten sie mit dem Lenker den Lack abkratzen, schieben sich vor den Wagen, sodass ich sie wieder überholen muss.

Was sind das für Idioten.

Dann erinnere ich mich, wie ich mich morgens immer an diesen Autos und Kleinlastern vorbeidrängen muss, die viel zu weit rechts fahren, sodass sie die Fahrräder fast wegquetschen.

Die Idioten waren ich. Ich war die Idioten.

„Wir machen manchmal den Fehler, zu denken, dass wir einer sind“, sagt mein Therapeut. „Wir sind aber viele, wir nehmen unterschiedliche Rollen an, immer wieder.“

Wind an meinen Ohren. Muskelziehen in meinen Beinen.

Und dann: ein Langsamfahrer.

Viel schlimmer als die Autos sind die Fahrradfahrer.

Weg da!

Links Laternen, viel zu nah. Überholen unmöglich. Ich komme mir vor, als würde ich im tiefergelegten Opel auf einer Landstraße hinter einem Traktor hängen und nervös Gas geben, nach links ziehen, Gas geben, runterschalten, nein, kommt schon wieder einer entgegen.

So hänge ich hinter diesem Langsamfahrer mit seinem klappernden Damenradschutzblech.

Der Technikforscher Hans-Erhard Lessing beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fahrrädern und ihrer Entwicklung. Er hat ein paar Ideen, warum die Geschwindigkeit auf den Straßen zugenommen haben könnte. Viel mehr Männer würden jetzt Rad fahren, sie seien kompetitiver als Frauen. Sie wollten auch den Autofahrern beweisen, dass sie innerorts fast 50 Kilometer pro Stunde können. Und: Vermehrt seien E-Bikes unterwegs, die Zusatzschub geben – äußerlich kaum zu unterscheiden.

Der Flugpionier Otto Lilienthal habe das Radfahren mit dem Fliegen verglichen, sagt Lessing, und die Bahnrennfahrer auf ihren optimalen Pisten hätten sich ja auch als Flieger bezeichnet. „Abruptes Anhalten im Verkehr kommt einer Zwischenlandung gleich“, sagt er. „Die beim Anfahren zuvor investierte kinetische Energie ist futsch.“ Blöd.

In Berlin nennen sich manche ganz bewusst Kampfradler. Die radfahrerunfreundlichen Verhältnisse würden sie dazu zwingen, Verkehrsregeln zu ignorieren. Erobert die Straßen! „Critical Mass“ heißt das in San Francisco. Mehr Platz für Räder! Macht aus Berlin ein neues Kopenhagen, ein neues Amsterdam! Schön, richtig. Venceremos, Velocipedistas! Bin ich dabei.

Ich frage mich aber trotzdem, ob das alles viel friedlicher wäre, wenn es auch in Berlin oder Frankfurt oder München große Fahrradautobahnen gäbe und Luftpumpen an zentralen Kreuzungen und mehr reine Fahrradstraßen und Fußabstellplätze für Radler an Ampeln wie in Kopenhagen. Ob es dann so wäre, wie ein Beamter des Umweltbundesamtes sechs Tage vor meiner Geburt 1980 im Spiegel prophezeite, als er das fahrradfreundliche Deutschland skizzierte, in dem nur noch ein paar Unverbesserliche Auto fahren: „Vom Fahrrad aus, da ruft man dem Nachbarn doch schon mal was Nettes zu oder freut sich über einen schönen Vorgarten, an dem man gerade vorüberradelt.“

Ich frage mich, was mein persönlicher Anteil ist. Von den Verhältnissen jetzt mal abgesehen.

Es ist ja auch so: Sosehr ich die CO2-Kokons der ignoranten Rechtsabbieger anspucken oder schlagen darf, umweltrechthaberisch betrachtet, so unüberzeugend wird es, wenn ich auf die Fußgänger losgehe.

Fußgänger haben einen vertretbaren CO2-Ausstoß. Fußgänger sind in der Regel nicht verantwortlich für die Autoampeln, nicht für die Fahrradwegenge und auch nicht dafür, dass Fahrradsubventionen vom Verkehrsministerium millionenweise gekürzt werden. Es sei denn, die Fußgänger heißen Dr. Peter Ramsauer, aber das ist selten der Fall. Dr. Peter Ramsauer sitzt in der Rechtsabbieger-Limousine hinten rechts.

Fußgänger in die Fußgängerhölle zu wünschen ist nicht zurechtzuerklären.

Wenn mir das mal wieder einfällt, während ich über den Gehweg brettere, weil auf der Straße nur Kopfsteinpflaster ist, bremse ich bei Hauseingängen, manchmal.

„Was macht das Hochgefühl aus beim Fahrradfahren?“, fragt mein Therapeut in die Stille der Altbauwohnung hinein. „Sie scheinen sich zu verändern, wenn Sie auf dem Rad sitzen.“

Dieses Dahingleiten, sage ich. Man rauscht so durch die Stadt. Da ist die Geschwindigkeit, der Wind, fließender Asphalt, fließende Gedanken.

„Ein bisschen wie eine Trance? Wie ein Tagtraum?“, fragt mein Therapeut. „Man ist drin und ist auch Zuschauer. Wie ein Film. Die Stadt wird zur Kulisse.“

„Ja, eigentlich genau so“, sage ich. Nachts beispielsweise. Alexanderplatz, Fernsehturm, Oberbaumbrücke, Lichter meiner Stadt.

„Das klingt wie Canyoning in der Großstadt“, sagt mein Therapeut.

„Was ist Canyoning?“, frage ich.

„Wenn man sich in Schluchten hinabstürzt“, erklärt mein Therapeut. „Sie haben ein kleines Hochgefühl und schweben ein paar Zentimeter über dem Boden. Das ist man mit dem Rad ja auch. Dann holen diese dummen Menschen Sie in die Realität zurück. Die Fußgänger, die anderen Radfahrer. Die unterbrechen die schöne Trance.“

Bin ich ihnen deshalb so böse?

Eine Freundin hat mir erzählt, wie auf der Hamburger Reeperbahn ein Radfahrer ein Auto in die Seite trat. So richtig mit Dellen. Der Mann habe wie ein Familienpapa ausgesehen. Er hatte einen Helm auf. Der Radlpapa hatte das Auto angebrüllt, weil es ihm zu weit rechts fuhr. Der Autofahrer versuchte daraufhin, ihn abzudrängen. Die Freundin traf den Radlpapa an der nächsten Ampel.

Er habe verschüchtert gewirkt, sagt sie. Wenn sie ihn nachmacht, klingt es, als wäre er ein kleines Kind, das sich entschuldigt. Der ist viel zu weit rechts gefahren, sagt der Radlpapa in ihrer Erinnerung dann.

Opferidentifizierung, sagt mein Therapeut. Der Radfahrer fühlt sich verfolgt, von den unfähigen Verkehrsbehörden, vom Autofahrer, dem Schwein. Er sieht sich selbst so sehr als Opfer, dass er gar nicht merkt, wie er sich auch zum Täter macht.

Wenn ich einem Auto, das mich übersehen hat, auf den Kofferraum haue, dann vor allem, damit es merkt, dass da jemand war, und beim nächsten Mal vielleicht aufpasst.

Haben diese Aggressionen auch mit einer Lust am Maßregeln zu tun?

„Ich habe ständig Angst, vor allem, nur nicht auf dem Rad.“

Mein Therapeut muss irgendwann lachen. „Bei Ihnen ist das ganz anders als in den Klischees. Sie haben keine Angst vor Autos. Sie regen sich über Fahrräder auf und über die Fußgänger. Und wenn Sie dann im Auto sitzen, bekommen Sie Angst vor Radfahrern.“

Vor mir also.

Warten ein Autofahrer, eine Radlerin und ein Fußgänger an einer Ampel, die einfach nicht grün wird. Ewiges Rot. Nirgends Verkehr. Wer bewegt sich zuerst?

Klar, auf keinen Fall der Autofahrer.

Aber warum?

Der Philosoph Jörg Friedrich, der die Frage einmal in seinem Blog diskutiert hat, sagt: Laufen und wie man sich an Ampeln verhält, lernen wir von den Eltern. Das Autofahren in der Fahrschule. Es hat etwas Offizielleres. Wir gehorchen staatlichen Autoritäten also zwanghafter als Vater und Mutter.

Na ja, und ein Auto hat ein Nummernschild.

Ein ehemaliger Kollege sagt: Du hast als Fußgänger mehr Macht. Du setzt immer gleich dein Leben.

Autofahrerin, willst du mich wirklich überfahren? Nur weil meine Fußgängerampel gerade Rot zeigt?

Radfahrer stehen irgendwie zwischen Autofahrern und Fußgängern. Als wir über den Parcours im Hof unserer Grundschule fahren mussten, über diese Miniaturstraßen, die dort das ganze Jahr über eingezeichnet blieben, kamen zwei Polizisten, die uns dann einen Fahrradführerschein ausstellten.

Vielleicht halte ich deshalb an roten Ampeln, meistens. Oft.

Vielleicht auch weil ich die Strafe kenne: 100 Euro.

Oder wegen der Gefahr?

Kampfradler sind seltener in Unfälle verwickelt, weil sie zwar aggressiv fahren, aber besser aufpassen, lese ich irgendwo.

Die Lastwagen, die Autos, sie fühlen sich harmlos an für mich.

„Wir können gut verdrängen“, sagt mein Therapeut, an der Tür jetzt schon. Die 50 Minuten sind längst zu Ende.

Wenn wir noch eine Sitzung machen sollten, würde er sich auf diese Szene aus meiner Kindheit konzentrieren, sagt er.

Muss ich mich wirklich mit meinen frühesten Fahrradweg-Kindheitserinnerungen beschäftigen, um mit meiner Aggression umgehen zu können?

Ich beschließe, mir eine Zweitmeinung einzuholen, und rufe den Hamburger Verkehrspsychologen Jörg-Michael Sohn an.

Ich bin Kampfradler und bräuchte Ihren Rat, sage ich, wie ich mit mir als Kampfradler umgehen soll.

„Kampfradler“, sagt Sohn, sei ein blöder Begriff, den dieser Ramsauer aufgebracht habe. Eine irreführende Bezeichnung für die zweitschwächsten Verkehrsteilnehmer.

Aha, derselbe Opferdiskurs wie beim ADFC.

Die Frustration im Verkehr, glaubt Sohn, hat mit unseren Idealbildern zu tun. Auto ist gleich Freiheit. Aber: Realität ist gleich Stau.

Als Radfahrer betrachten wir uns als jemand, der anderen ein Schnippchen schlage, indem er schneller sei als Fußgänger und Autos, an denen er sich vorbeischlängle. Wenn Fußgänger oder Autos uns dann aufhalten, bricht dieses Bild. So entstehe der Frust. Man denkt, man hat den anderen etwas voraus, und merkt dann, dass man doch nur genauso langsam ist wie sie. „Ich kann mich dem Verkehrsstrom nicht entziehen“, sagt Sohn.

Besonders groß sei der Frust, wenn es gerade mal gut lief, wenn man wirklich schneller vorankam. „Immer, wenn ich aus dem Flowzustand rausgerissen werde, dann kommt die Aggression, die Wut, das Genervtsein.“

Das ist ein Radweg!, brüllen Radler, wenn Fußgänger ihn aus Versehen betreten. Runter von meinem Radweg. Runter von meinem Gehweg.

Ein Mensch verteidigt sein Territorium.

Man könne sich die Wege noch so sehr getrennt vorstellen, sagt Sohn. „Die saubere Trennung funktioniert nicht, die Wege mischen sich.“

Trotzdem sieht jeder den Verkehr immer nur aus der Perspektive des Fahrzeugs, das er gerade fährt. Man fahre in der Regel auch nur eines und wechsle nicht so oft. Gerade das wäre aber nötig, um den Verkehr emotional als gemeinsame Veranstaltung vieler wahrzunehmen, um ihn als soziales System zu verstehen.

Man stelle sich, wenn man sich aufrege, oft keine Menschen vor, sondern man schimpfe über den roten Golf da. Ähnlich könne das beim Radfahren funktionieren. Das blöde Mountainbike vor mir. Das dämliche Rennrad. Der Radfahrer wird zum Teil einer Maschine. Eine Maschine kann man ruhig schneiden oder abdrängen.

Sie schreit dann halt.

Jörg-Michael Sohn zitiert Bertolt Brecht: Ein Auto zu fahren bedeutet, drei Autos zu fahren. Das eigene, das vor mir und das hinter mir.

Müsste ich also als Therapie mehr Autofahren? Um den Verkehr emotional als gemeinsame Veranstaltung zu verstehen? Sollte ich häufiger auf Radwegen laufen?

Ich muss an eine Frage meines Therapeuten denken. Was ist das Hochgefühl?

Das Rennen.

Ich trete. Ich rausche. Ich. Ich. Ich.

Ich-Gesellschaft, klar, würde der Soziologe sagen, den ich jetzt vorsichtshalber mal nicht anrufe. Individualisierung. Unkontrollierte Ich-Atome schießen durch die Stadt.

Es gebe Radler, „für die es Lebensbedürfnis ist, jeden, der ihnen in Sicht kommt, zu überholen.“ Wenn sich nun einer aus „demselben ‚Ehrgeiz‘“ wehrt, „so ist eine kleine Wettfahrt fertig, ein Zweikampf, der oft recht erbittert bis zur Niederlage einer Partei ausgefochten wird“.

So steht das schon im „Handbuch des gesamten Radfahrwesens“, das Ende des 19. Jahrhunderts erschien, als die Fahrräder gerade massenweise auf die Straßen kamen. Ärzte stritten damals über den Schaden, den man mit so einem Rad anrichten kann.

Am Ende seien beide Kämpfer meist ausgepumpt und völlig fertig, steht da.

So komme ich morgens oft an meinem Schreibtisch an. Sehr entspannt.

Du bist ja ganz nass, sagt dann manchmal jemand.

Johannes Gernert, 32, ist sonntaz-Redakteur. Er fährt wirklich so