: Allein im fremden Land
NS-GESCHICHTE Eine szenische Führung von Studenten und Senioren im ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager Schöneweide, in dem auch eine neue Dauerausstellung zum Alltag der Zwangsarbeiter eingerichtet ist
„Was ist Ihre Schuhgröße?“ Je nach Antwort wird dem Besucher ein blaues, grünes oder orange Bändchen am Handgelenk angeknüpft. Mit dieser verwirrenden Gruppeneinteilung, die an die Willkür der Zwangsarbeit erinnern möchte, beginnt am Sonntag die inszenierte Führung „Außen vor und mittendrin“ im ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager in Schöneweide.
Jede Gruppe wird aufgefordert, ihrem Leiter „zügig“ auf der Straße zu folgen. Es geht um das über drei Hektar große Areal des 1943 errichteten Lagers herum, das insgesamt 13 Unterkunftsbaracken umfasst. Ziel ist der Block 13 am anderen Ende des Geländes, der am besten erhalten ist.
Die 22 schwarzgekleideten Frauen und Männer, die diese Collage aus Spielszenen und szenischen Lesungen spielen, sind Studenten der Alice-Salomon-Hochschule sowie Schauspieler des Seniortheaters Theater der Erfahrung. Die Studenten haben das Thema Zwangsarbeit mithilfe des dort in Schöneweide bestehenden Dokumentationszentrums recherchiert. Der intergenerative Ansatz dieser Zusammenarbeit gibt dieser Produktion eine besonders spannende Färbung.
Auf dem Weg zur Baracke ertönt Musik. Auf der anderen Straßenseite spielt ein älterer Mann Geige, eine junge Frau singt dabei das Chanson von Lili Marleen, allerdings in einer umgedichteten Fassung: „Vor unserm Lager / vor der großen Tür / steht eine Laterne / doch niemand wartet hier / Wir sind allein im fremden Land …“ In dem Lager waren vor allem italienische Zwangsarbeiter untergebracht. Aus Aufzeichnungen von ihnen wird dann vorgelesen. „Oft wird gefragt, warum wir auf dem Weg nicht abgehauen sind. Aber wo denn hin ? Unsere Heimat war weit entfernt und wir kannten die Sprache nicht.“
Die Baracke 13, die mit ihrer Wänden aus Stein und Gips den Charakter eines Gefängnisses erhalten hat, ist in zwölf Stuben aufgeteilt. Seit der Renovierung 2010 ist jede davon einem Thema aus dem Zwangsarbeiteralltag gewidmet. Am Sonntag werden Szenen in den Stuben gespielt. In der Stube „Hunger“ sitzt ein Mädchen auf dem Boden vor einer kärglichen Essenplatte. Sie erzählt: „Die tägliche Portion waren 250 Gramm Brot, ein Stückchen Margarine und eine Suppe aus Kohlrüben. Wenn man jemand in der Küche kannte, konnte man heimlich einen Kartoffel bekommen…“
„Das Schwierigste war, aus den vielen Geschichten auszuwählen“, sagt Johanna Kaiser von der Alice-Salomon-Hochschule, die die szenische Führung zusammen mit Eva Bittner vom Theater der Erfahrung erarbeitet hat. Nicht nur im Archiv des Dokumentationszentrum wurde man fündig, auch die Senioren steuerten Geschichten aus ihren Erinnerungen bei.
In einer weiteren Szene bei dem Rundgang geht es um die Geburtstagsfeier eines 90-jährigen Industriellen. Er zelebriert den Erfolg seiner Firma und scheint dabei auch um die Opfer eines Bombenangriffs während der Kriegszeit zu trauern. Eine protestierende Stimme meldet sich aus dem Publikum: Nicht um „zur Verfügung“ gestellte Mitarbeiter ging es, sondern um Kriegsgefangene. Keine zufälligen Opfer, sondern die eines Systems: denn Zwangsarbeiter durften bei Bombenangriffen nicht in die Luftschutzkeller.
Eine Szene schlägt den Bogen in die Gegenwart. Verlesen wird ein aktueller Text der deutschen Ausländerbehörde. „Der ist so geschrieben, dass er von einem normalen Bürger nicht zu verstehen ist, ohne Widerspruchsmöglichkeit“, sagt Johanna Kaiser und verweist auf die Lebensbedingungen in Asylbewerberheimen.
Die Führung fand im Rahmen des Programms zu der neu eingerichteten und gerade erst eröffneten Dauerausstellung im Dokumentationszentrum Schöneweide statt, „Alltag Zwangsarbeit 1938–1945“, die die Geschichte der Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus als allgegenwärtiges Massenphänomen dokumentiert. Ein Phänomen, das in der Schau besonders plastisch vor allem durch Porträts wird: Biografien von Zwangsarbeitern und auch von Deutschen – Tätern, Profiteuren, Zuschauern und Helfern. GABRIEL LOMBARD