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Archiv-Artikel

Die Kälte der Ewigkeit

Zeit der Zitate: In „Faustus, The Last Night“, einer neuen Oper des Komponisten Pascal Dusapin, die an der Berliner Staatsoper uraufgeführt wurde, ist der Fluss der Geschichte zerstört. Zitate treiben wie Trümmer vorbei – und die Dramatik läuft leer

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Neunzig Minuten lang steht die Zeit still in der Berliner Staatsoper. Eine riesige Bahnhofsuhr steht schräg auf der Bühne. Ab und zu setzen sich die Zeiger in Bewegung, aber sie messen keine Minuten und Stunden mehr. Zwei glatzköpfige Männer klammern sich daran fest, um nicht abzurutschen auf der glatten Fläche des Ziffernblattes. Der Däne Michael Elmgreen und der Norweger Ingar Dragset haben dieses Bild entworfen. Beide Künstler leben in Berlin und haben großen internationalen Erfolg mit ihren Installationen. Als Spielfeld für Pascal Dusapins neue Oper „Faustus, The Last Night“ ist ihr Entwurf geradezu ideal. Denn die Geschichte des Doktor Faustus ist längst erzählt und ausgedeutet – folgerichtig konstruiert sie Dusapin als literarisches Zitat. Die Liste der Quellen seines selbst verfassten Librettos ist lang, und dennoch geht es ihm gerade nicht um die Erinnerung an eine Tradition. Sein Faust ist vielmehr eine surreale Collage, der Fluss der Geschichte ist zerstört, alles scheint derselben Zeit anzugehören – wenn es sie noch gäbe, die Zeit.

Sie vergeht zwar im Theater, aber selbst Mephisto verzweifelt, Augustin zitierend, über der Frage, was sie sei. Er findet keine Antwort. Auf der schiefen Ebene des Ziffernblattes wird der alte Faustus zu einem Quälgeist für ihn, der ständig Fragen stellt, etwa, wie viele Himmel hinter dem Mond seien und wer die Welt erschaffen habe. Mephisto mag nicht mehr antworten und wird zu Melvilles Bartleby: „I would prefer not to.“

Endlos-zeitlos könnten die Baritone (Georg Nigl und Hanno Müller-Brachmann) im Duett so weiter streiten, aber im Theater muss sich etwas ereignen, denn sonst wäre es kein Theater. „Du musst wiedergeboren werden“, singt gleich zu Beginn ein Engel, der ganz oben am Zifferblatt hängt. Keiner hört ihm zu, aber hartnäckig kontrapunktisch zitiert Caroline Steins Sopranstimme in durchdringender Extremlage ein Gedicht von William Blake. Der Engel möchte den Faust herausführen aus der Verdammung, aber er hat selber den Weg vergessen … Faust turnt dazu stotternd und schwadronierend auf den Uhrzeigern herum, ohne den Engel auch nur wahrzunehmen.

Angelockt von Dusapins chromatisch aufgeladenen, gefälligen Himmelsklängen betritt jedoch Sly die Bühne, dem Personal von Shakespeares „Widerspenstiger Zähmung“ entlehnt. Fett und betrunken torkelt der Tenor (Robert Wörle) herum. Außer der Musik, die nur er zu hören scheint, ist im alles egal. Ihm zuliebe lässt Dusapin denn auch einige kleine, virtuose Konzertstückchen im Orchester erklingen, das sich sonst eher damit begnügt, fein abgestimmte Klangflächen unter den Sprechgesang der Männer zu legen. Hinter ihm schleicht sich schließlich Togod auf die Spielfläche: ein Anagramm von „Godot“ und von Dusapin als eine Art nachgebesserte Version des Mephisto erfunden. Radikaler als der alte Teufel hält er Himmel und Hölle für eines und alles für nichts.

Personen mit nachvollziehbaren Charakteren sind sie jedoch alle nicht, nur Spielfiguren und Allegorien einer synthetischen, in sich abgeschlossenen Kunstwelt. Faust, ein größenwahnsinniger Egomane, sucht das „Licht“ und steigert sich in den Wahn hinein, zu Gott selbst aufzusteigen. Der Engel kreischt das Ende der Welt herbei, das Orchester rast ins Fortissimo. Ein langsam abklingendes Geräusch vom Tonband setzt danach eine dramatische Pause, aber zu Ende ist das Spiel nicht. Faust und Mephisto machen nach der imaginären Katastrophe weiter mit ihren Grundfragen nach der Existenz und Welt, solange bis Beckett-Togod endgültig feststellt, alles sei nichts. Shakespeare-Sly pfeift noch eine Weile die lang gezogene Schlussmelodie der Geigen nach und lässt dann Fausts Ballon platzen: Ein wirklich sehr kleiner Knall am Ende.

Regie geführt hat Peter Mussbach, der Hausherr der Staatsoper. Er hat in Paris Dusapins vorletzte Oper „Perelà“ inszeniert, und kennt den in Deutschland noch wenig aufgeführten, 1955 geborenen Komponisten daher sehr gut. Trotzdem dauern die neunzig Minuten dieses Werkes reichlich lang. Es liegt nicht an Mussbach, sondern an dem in der Konzeption begründeten Mangel an Dramatik. Es ist eben wirklich alles schon einmal gesagt, und auch Dusapins Partitur klingt stets gepflegt, durchdacht, aber nie überraschend. Fausts Drama ist in derart zeitlose Ferne gerückt, dass es kalt lässt. Man wundert sich eine Weile darüber, und geht dann kopfschüttelnd weiter wie bei einer Bahnhofsuhr, deren Zeiger unmögliche Zeiten anzeigen.