: Ehrfurcht vor den Bändchen
TRADITION Was ist bloß mit der Theorie passiert? Der Merve-Verlag feiert Jubiläum, vergewissert sich seiner Vergangenheit und wirft verschämt einen Blick in die Zukunft
VON MAXIMILIAN PROBST
Ein buntes Band, das sich an der Museumswand entlangschlängelt. Ein Band aus tausend Bänden: Die kleinen Buchbände des Merve Verlags sind’s, die eng aneinanderstehen, immer in doppelter Ausgabe, sodass sich Cover an Buchrücken reiht. Peter Gente schreitet die Reihe ab und sagt zu diesem und jenem Buch ein paar Worte.
Aber auch das Band an der Wand sagt, wenn man so will, ein paar Worte, über Gente und über sich. „You ’ve come a long way“, sagt es. Weil Gente aus seiner Wahlheimat Thailand angereist ist. Weil’s 40 Jahre her ist, dass er den Verlag mit seiner damaligen Frau Merve in Berlin gegründet hat. Und weil auch die ersten im Kollektiv verlegten marxistischen Flugschriften des Verlags nun im Privatmuseum des Hamburger Kunstsammlers Harald Falckenberg zu sehen sind.
Das mit Hamburg hat seine Gründe. Da ist Gente, der immer ganz für das Buch gelebt, nie damit Geld verdient hat und nun für seinen Lebensabend in Thailand gern ein wenig hätte. Und da ist Falckenberg, der als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens reichlich Geld verdient hat und nun auf bewundernswerte Weise nicht nur das, sondern auch seine Person ganz der Kunst und deren Theorie widmet. Da hatten sich also zwei gefunden – den Dritten aber fast vergessen: Tom Lamberty.
Stachel im System
Der Geschäftsführer von Merve kam 2002 nach dem Tod von Heide Paris, der allseits verehrten Lebensgefährtin von Gente, in den Verlag und liebäugelte damit, ihn als autonomen fortführen. Ohne Mäzen im Rücken. Ohne Fundraising- oder Stiftungsgeld. Um das linke Selbstverständnis von Merve als „Stachel im System“ zu wahren. Auch wenn das mit der im Kulturbetrieb grassierenden Selbstausbeutung einhergeht. 250 Euro verdient Lamberty monatlich bei Merve. Zum Leben reicht das nicht, nebenher hat er einen Brotjob. „Ich habe kein Problem damit, eine Hure zu sein“, sagt er. „Ich will mir aber aussuchen, mit wem ich ins Bett steige.“ Nun gibt es erst mal eine Ménage à troi, mit der alle ganz zufrieden scheinen, auch wenn sie nicht nach einer Dauerlösung aussieht. Gente hat seine Verlagsanteile Falckenberg treuhänderisch übertragen. Der hält sich zurück und lässt Lamberty walten und schalten.
Beim Jubiläum geht es aber vorrangig um die glänzende Vergangenheit des Verlags, auch auf dem Symposium, zu dem noch Peter Weibel, der Leiter des Zentrums für Medienkultur, und der Wissenschaftshistoriker Philipp Felsch in die Hamburger Kunsthochschule gekommen sind. Wie anfangs das Kollektiv drucken lernte, um im Kielwasser der chinesischen Kulturrevolution die Trennung von Hand- und Kopfarbeit hinter sich zu lassen; wie Gente den Verlag ab 1975 mit Heidi Paris fortführte und unter ihrem Einfluss auf den französischen Poststrukturalismus umschwenkte; wie sie François Lyotard als Erste ins Deutsche übersetzten, Foucault zum Durchbruch verhalfen; wie 1977 Deleuzes „Rhizom“ sich als ein solches auszubreiten begann und mit ihm die kleinen Merve-Bändchen zum „Vademecum in der Manteltasche“ all derer wurde, die auf der Höhe der Zeit sein wollten: Das ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie bald im Buche stehen könnte.
Es liegt ja in der Luft, diese Geschichte jetzt zu schreiben, sagt Felsch. Denn der theoretische Furor, die Zeit, in der laut Diedrich Diederichsen die Theorie wie Schallplatten rezipiert wurde: vorbei. Die letzte große Geschichte, die vom Ende der großen Geschichten: erzählt. Bleiben Verfall und Spezialistentum.
Die Umgebung scheint dem Historiker recht zu geben. Obwohl das Symposium in der Kunsthochschule abgehalten wird, ist weit und breit kein Student zu sehen. „Die kommen nur, wenn’s dafür einen Schein gibt“, sagt der früher einmal „Junge Wilde“ Werner Büttner, der an der Hochschule Malerei unterrichtet. Also rund heraus: Ältere Herren, so beschlagen wie betagt, machen das Gros des Publikums aus und damit Spezialistentum und Verfall augenfällig: Die Theorie erscheint zurzeit mal wieder grau.
Neuer Atem des Ernstes
Dazu passt, dass Peter Weibel schon mal das Archiv preist. In dem werde das Wissen zwischengelagert, könne dann aber zur gegebenen Zeit aktualisiert werden, um die Gegenwart zu umlaufen. Falckenberg wiederum spricht von Wellenbewegungen. Der Phase des totalen Marktes folge ein erneuter Aufschwung der Theorie. Erste Anzeichen meint Lamberty dafür bereits entdecken zu können: etwa ein junges diskutierfreudiges Publikum auf Theorieveranstaltungen in Berlin. So sei der Philosoph Alain Badiou neulich in der Hauptstadt regelrecht mit Fragen gelöchert worden. Bei Badiou sieht Lamberty dann auch etwas „Zukünftiges“ – und lässt den höchst umstrittenen Fundamentalphilosophen mit einer Grundsatzschrift zur Politik auch gleich den Auftakt zur neuen Merve-Reihe „morale provisoire“ machen.
So gut nun dieser Reihentitel das Verlagsprogramm der besten Merve-Jahre charakterisiert, so schlecht passt er zu Badiou. Der redet von überzeitlicher Wahrheit und Treue, seine Schriften durchweht der Atem von tierischem Ernst und Askese. Ein Schnitzer also? Oder der Versuch eines durch vermeintliche Kontinuität gedeckten Vatermords?
Das Motiv dafür lässt sich verstehen. Denn eins macht der Abend im Museum, wo die Merve-Bändchen Ehrfurcht erheischend an der Wand stehen (Anfassen verboten) überdeutlich: Sie sind dort fehl am Platz. Kein Buch, was sich so gut wie die kleinen, billigen Merve-Bändchen zum restlosen Zerlesen und Zirkulieren eignet. Sie gehören nichts ins Museum. Sie gehören auf die Straße.