: Kein Tag ohne Präparat
Die Präparatorin der Charité erzählt
von GABRIELE GOETTLE
Navena Widulin, Museumskonservatorin und Präparatorin am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité, Campus Mitte. 1978 Einschulung i. d. Polytechnische Oberschule Juri-Gagarin, 1988 Beendigung der Schule. 1988–1991 Ausbildung z. Arbeitshygiene-Inspektor an d. Medizinischen Fachschule Köthen. 1991–1992 Ausbildung z. medizinischen Sektions- und Präparations-Assistentin (Präparatorin) an d. Lehranstalt d. Krankenhauses Berlin-Neukölln. Seit 1993 Tätigkeit a. d. Charité (i. Bereich Sektion), seit 1998 Konservatorin und Präparatorin (i. Medizinhistorischen Museum). 200 und 2001 über d. UNO jeweils f. zwei Monate i. Bosnien (Exhumierung v. Leichen aus Massengräbern z. Klärung v. Kriegsverbrechen u. Beweissicherung f. d. Haager Kriegsverbrecher-Tribunal). Mitglied i. Verband deutscher Präparatoren; im BHID (British Association for Human Identification); im Team v. Deathcare-Embalming Deutschland. Außerdem begeisterte Moto-Cross-Fahrerin (Teilnahme an Rennen). Navena Widulin wurde 1972 i. Cottbus/DDR geboren. Ihre Mutter ist Spediteurin, der Vater u. a. Philosoph u. Dolmetscher. Navena lebt mit ihrem Freund Sven Philipp zusammen, sie haben ein gemeinsames eineinhalbjähriges Kind.
Es weht ein eisiger Wind an diesem Morgen. Dennoch stehen die jungen Ärztinnen und Ärzte der Charité in ihren weißen Kitteln auf den Straßen rund um den Karlsplatz. Sie streiken für bessere Anstellungs- und Arbeitsbedingungen und verteilen Flugblätter. Auf dem Virchow-Denkmal liegt etwas Schnee und so wirkt es auch irgendwie ärztlich. Oben auf dem säulenverzierten Sandsteinsockel winden sich seit 1910 zwei muskulöse Männerkörper in einem immer währenden Ringkampf, Gut und Böse, resp. Tod und Leben. Rudolf Virchow (1821–1902) kam als junger Mediziner hier an die Prosektur und hat mehr als fünfzig Jahre an der Charité verbracht, unterbrochen durch einen sieben Jahre dauernden Aufenthalt in Würzburg, nach strafweiser Entlassung wegen seiner Teilnahme an der 48er Revolution. Nach seiner Rückkehr entfaltete er ein ungeheures Ausmaß an Aktivitäten auf vielerlei Gebieten und wurde weltberühmt u. a. als Pathologe mit seiner Zellularpathologie. Er verstand sich nun als Reformer als politischer Naturwissenschaftler, engagierte sich gegen den Krieg und für den sozialmedizinischen Fortschritt, setzte sich als Abgeordneter für den Bau von Krankenhäusern, Obdachlosenheimen, Markthallen und Schlachthöfen ein (von ihm stammt die bis heute praktizierte Trichinenkontrolle), und er trieb die Versorgung der Stadt mit Trinkwasserleitungen und der Kanalisation der Schmutzwasserbeseitigung voran, zur Verbesserung der Hygiene und Seuchenprophylaxe. Er widmete sich auch den Bedingungen, unter denen das Proletariat in Hinterhöfen und Kellerwohnungen gezwungen war zu leben (siehe Zille), plädierte für die Errichtung öffentlicher Parkanlagen und Schrebergärten. Bildung, Wohlstand und Freiheit sagte er, sind die notwendigen Voraussetzungen für die Gesundheit der Bevölkerung. Auch heute wieder sehr aktuell.
Virchow war aber auch ein passionierter Anthropologe, Rasseforscher und vor allem Sammler. Ein Foto von 1896 zeigt ihn in seinem Arbeitszimmer, umgeben von zahlreichen Skeletten, Schädeln und Knochen, stolz wie ein Großwildjäger. Auch die vorgefundene Sammlung pathologisch-anatomischer Präparate vermehrte Virchow geradezu „messihaft“ zu derart ausuferndem Umfang – gemäß seinem Motto: Kein Tag ohne Präparat –, dass ein großer Neubau nötig wurde. Er bekam auf Grund seiner Berühmtheit und der Berühmtheit seiner Sammlung ein Institut für Pathologie nach seinen Wünschen, bestehend aus Museums-Lehr-Forschungs-Obduktionsgebäude und Kapelle, das Einzige dieser Art weltweit, Bestandteil eines Krankenhausgeländes, gelegen am Alexanderufer des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals.
1899 wurde der Museumsbau feierlich eröffnet, er wurde zu einem Ort der Popularisierung von Wissenschaft zum Zweck der Volksaufklärung, das war neu. Auf zwei Etagen zeigte eine Schausammlung mit Feucht- und Trockenpräparaten anschaulich das Spektrum typischer Krankheitsbilder nebst Warnungen und Vorkehrungsmaßnahmen. Auf den übrigen Etagen lagerten über 20.000 weitere Präparate dicht gedrängt. Von dieser Sammlung blieb durch einen Brandbombenschaden im Zweiten Weltkrieg nur ein sehr kleiner Bestand übrig, der aber nach 1945 durch ein begünstigendes Sektionsrecht der DDR rasch aufgefüllt werden konnte, so dass heute wieder mehr als 10.000 Objekte inklusive der alten Bestände existieren. Etwa 700 davon wurden der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht und befinden sich im 1998 wiedereröffneten Gebäude, das nun Medizinhistorisches Museum heißt. Seit 2002, zu Virchows 100. Todestag, wird die an sein Konzept angelehnte neue Dauerausstellung in Virchows original eisernen Vitrinenschränken präsentiert.
Navena Widulins Arbeitsraum liegt im Institut für Pathologie, einem Charité-typischen roten Backsteinbau, der sich unmittelbar ans Museum anschließt, fünfstöckig ist und heute „Rudolf-Virchow-Haus“ heißt. Die Hüterin der Sammlung empfängt uns gut gelaunt, zeigt Elisabeth im kleinen Vorraum ihren Augenstern, ihre stattliche Gallensteinsammlung (ich gehe lieber schnell vorbei, weil ich selbst welche habe), und bittet uns dann in ihren Arbeitsraum, der hoch, groß und sehr hell ist. Er ist bis zu halber Höhe weiß gekachelt und war vormals Seziersaal. Wir legen unsere Mäntel mangels anderer Ablagen auf einen der Seziertische aus hellem Marmor und blicken uns um, während unsere Gastgeberin telefoniert. In den Wandregalen, auf Kühlschränken, Ablagen und Seziertischen stehen Arbeitsgeräte, Kartons, Ersatzgläser, Plastikbehälter und schöne rechteckige und auch zylindrische Glasgefäße verschiedener Größe, in denen Präparate in ihren bräunlich gewordenen Flüssigkeiten schweben. Halbe Herzen, Speiseröhren, Hirne, eine aufgeschlitzte Ratte und ein Gewirr aus kindlichen Körpern und Gliedern, das auf den drei Schultern einen gemeinsamen janusgesichtigen Kopf trägt mit irgendwie empörten Gesichtsausdrücken. Sie alle harren ihrer Aufarbeitung entgegen. Ebenso das vor langer Zeit verstorbene am ganze Körper verhornte kleine Kind, das im steinernen Abflussbecken eines der Seziertische ausgestreckt im Wasser liegt wie zum Bade.
Ehemaliger Sektionssaal“, erklärt Frau Widulin, „heißt nicht zu Virchows Zeiten, das Haus wurde erst 1906 gebaut, da war er schon tot. Es war alles sehr großzügig konzipiert. Und zu DDR-Zeiten wurden ja wirklich 100 Prozent der Leichen seziert, praktisch jeder, dementsprechend viele Tische brauchte man. Das Recht hat sich aber nach der Wende geändert und das ging dann schlagartig nach unten.“ (Das Berliner Sektionsgesetz von 1997 erlaubt Sektion nur, wenn im Behandlungsvertrag zwischen Patient und Krankenhaus zugestimmt wurde bzw. wenn ein begründeter Ausnahmefall vorliegt. Angehörige haben innerhalb von acht Stunden von 8 bis 22 Uhr ein Widerspruchsrecht. Anm. G. G.) „Es war eigentlich ein Glücksfall, wie Sie sehen, ich habe für mein Labor viel Licht, viel Platz, den brauche ich auch. Die Sammlung muss ja gepflegt werden und restauriert, die alten Lösungen müssen durch neue ersetzt werden. Das nennt sich Jores eins und zwei. Eins ist die Fixierlösung, zwei die Konservierungslösung, die Endlösung.“ Sie sagt es in aller Unschuld. Bei dieser Gelegenheit fragen wir, ob es Präparate aus der NS-Zeit gibt in der Sammlung. „Wir haben das natürlich überprüft und überprüfen es noch, aber in der Regel betrifft es hauptsächlich die anatomischen Institute und Sammlungen. Unsere Präparate stammen von natürlich verstorbenen, also an Krankheiten verstorbenen Personen, das kann man an den Sektionsprotokollen nachvollziehen. Also sie stammen nicht aus einem Unrechtskontext. Daran sind wir auch selber sehr interessiert, unser Direktor, der Medizinhistoriker Professor Schnalke, ist ja Mitglied im Arbeitskreis „Menschliche Präparate in Sammlungen“, wo es auch sehr gezielt um den Umgang mit Präparaten solcher Herkunft geht. Ich habe in den nächsten Jahren noch damit zu tun, die Sammlung zu archivieren und in eine Datenbank einzufügen, und ich hoffe und vermute eigentlich nicht, dass ich etwas finde.
Wir haben zwei Lagerräume – glücklicherweise bekommen wir bald ein richtiges Depot – bis jetzt stehen die über 9.000 Gläser teils in der alten Kapelle des pathologischen Instituts, teils im Präparatekeller, ich zeig’s Ihnen nachher. Das ist alles in einem ziemlich desolaten Zustand und schädigt die Sammlung natürlich, wenn nicht eingegriffen wird. Zu unserem Fundus möchte ich noch sagen, dass wir auch eine Moulagensammlung haben, die sehr stiefmütterlich behandelt wurde all die Jahre, im Schrank übereinander gestapelt lag und teilweise gebrochen ist. Moulagen sind ja sozusagen die Herzensangelegenheit von Professor Schnalke, er hat ein schönes Buch gemacht, in diesem Zusammenhang ergab sich auch der Kontakt zu einer alten, sehr erfahrenen Mouleurin in Dresden, Frau Walther, sie hat sich bereit erklärt, unsere Moulagensammlung zu restaurieren. Das ist ein großer Schatz, was sie noch kann. Ich durfte ihr auch schon über die Schulter gucken und versuche mich selbst etwas einzuarbeiten, aber das braucht natürlich viel Erfahrung, so einen Wachsabguss zum Beispiel eines verkrüppelten Fußes zu restaurieren, zu kolorieren. Sie ist ja eine der wenigen auf der Welt, die das noch können, die noch am Patienten selbst abgeformt hat. Also die Moulagen gehören zu meiner Aufgabe und dann – was ja auch der Zweck der Präparatesammlung ist – es kommen immer wieder Anfragen von anderen Museen und Instituten, die etwas brauchen, dann gehe ich ins Depot und muss zum Beispiel ‚Nieren bei Cholera‘ finden, was bei der Enge schwierig ist, und oft muss die Lösung vorher erneuert werden, weil sie verfärbt, getrübt oder geschwunden ist. Und um die alte Lösung auszuschwemmen, muss ich das Präparat erst mal fließend wässern, so wie in diesem Fall“, sie zeigt auf das Kind im Abflussbecken.
„Danach hält es dann aber über Jahrzehnte. Und hier“, sie zeigt auf ein zierliches schneeweißes Maulwurfsskelett, „dafür habe ich mir bei einer Präparatorentagung ein paar Speckkäfer besorgt, die halte ich da unter dem Tisch in diesem kleinen Terrarium, die haben gute Kiefer und leisten hervorragende Arbeit bei der Mazeration. Wenn man aufpasst, dass sie nicht an die Bänder und Knochen gehen, kann man ein hervorragendes Bänderskelett bekommen, auch die Zähne bleiben fest sitzen, während sie bei flüssiger Mazeration ausfallen. Und was noch so in meinen Arbeitsalltag fällt, ist das Problem, dass manche der alten Präparate von 1888 oder 1902 keine Diagnose haben beziehungsweise eine, die heute nicht mehr stimmt. Ich hab jetzt z. B. einen Kopf dort in dem Eimer mit der Diagnose, vermutlich Lepra Leontina. Das ‚Löwenantlitz‘ ist typisch bei Lepraerkrankungen. Ich habe Kontakt aufgenommen zu einem Professor in Hamburg, vom Tropeninstitut, der möchte das gerne histologisch untersuchen.“ Wir möchten das „Löwenhaupt“ sehen. Sie streift Gummihandschuhe über, öffnet den Deckel des schwarzen Plastikeimers und hebt vorsichtig einen lehmbraunen Männerkopf mit kahler Schädeldecke aus dem Wasserbad, die Haut ist zerklüftet, Kinn, Backen und Stirn sind überzogen mit Wülsten und Knoten. Die geöffneten Augen scheinen trüb herauf zu schauen, der Mund ist ein wenig geöffnet. Sie senkt den von seiner fernen Leidensgeschichte gezeichneten Männerkopf wieder in die Flüssigkeit und schließt den Deckel. „Die Molekularpathologie hat natürlich fantastische Möglichkeiten, auch in so einem Fall.
Also jedes Präparat hat sozusagen eine nachvollziehbare Herkunft. Früher waren das die Sektionsbücher und Protokolle, heute haben wir seit zehn Jahren etwa den Sektionsantrag. Der begleitet die Leiche und da gibt es eine große Spalte, in der die Kliniker den Krankheitsverlauf darstellen und auch auf eventuelle Infektionsrisiken hinweisen, wie Hepatitis, Aids, TBC. Hier in der Charité ist der Kontakt zwischen Pathologie und Klinik sehr gut. Die Kliniker sind natürlich auch an einer Qualitätskontrolle ihrer Befunde interessiert. Ich selbst habe durch meine frühere Tätigkeit auch einen guten Kontakt zum Sektionssaal. Das ist mein Plus sozusagen, ich könnte nach Absprache mit der Klinik, mit dem Prosektor, mir sozusagen das Organ selber entnehmen, das vielleicht irgendeine seltene Auffälligkeit oder Erkrankung hat. Also, ich weiß so ungefähr über den Bestand von uns Bescheid, weiß, was fehlt, was nicht. Wenn die in der Sektion z. B. sagen, wir haben eine tolle Leberzirrhose, dann winke ich ab. Wir haben schon Unmengen aus der DDR-Zeit. Alzheimer und so was, das ist rar. Oder hier was ganz anderes, die Katze, das Herz und die Lungenscheibe, Tierpräparate aus dem ehemaligen Reichsgesundheitsamt in Dahlem. In der Virchow’schen Sammlung war ja auch einiges an Tierpräparaten, da lässt sich z. B. mal eine Tuberkulose des Menschen mit der beim Tier gegenüberstellen, oder wir leihen uns auch mal ein gesundes Vergleichsorgan. Ich verbringe, das werden Sie nachher sehen, auch viel Zeit mit dem Suchen, weil die Gläser aus Platzgründen so eng gestellt wurden, dass die Aufschriften nicht zu sehen sind, da muss ich mich dann durcharbeiten, wir haben allein 1.000 Herzpräparate. Ich denke, wir machen jetzt einen kleinen Rundgang. und ich zeige Ihnen alles zur besseren Vorstellung.“
Sie zeigt uns den neben ihrem Arbeitsraum liegenden Sektionssaal. Er ist leer, ähnelt dem ihren, riecht aber nach Desinfektionsmittel. Die Gummischuhe sind säuberlich aufgereiht. Daneben liegt der Sektionshörsaal, überraschend klein, mit steil ansteigenden, halbrunden Sitzreihen. Zu Füßen steht wie ein sakraler Opferaltar ein blitzblanker, verchromter, drehbarer Sektionstisch mit OP-Lampe. Dahinter eine Tafel. „Hier findet auch die ‚Klinikvorstellung‘ statt“, erklärt Frau Widulin, „es werden dann Organschalen auf den Tisch gestellt, pro Organ eine Schale. Die Kliniker stehen hier, die Pathologen gegenüber, und dann wird der Fall durchgesprochen.“ Beim Hinausgehen fällt mein Blick durch das einzig verbliebene Fenster aufs Hafenbecken der Spree. Bis 1989 verlief dort die Mauer. Wir gehen die Treppe hinunter. „So. Das ist jetzt unser Leichenkeller“, sagt Navena Widulin und öffnet eine Tür. „Die Leichen liegen bei vier Grad in drei Etagen hier rechts im Kühlraum.“ Sie zieht eine der Bahren aus der mittleren Etage halb heraus. Füße, Beine und Windelhose eines verstorbenen alten Mannes werden sichtbar. Das Neonlicht fällt durch die Öffnung ins Halbdunkel des Kühlraums, es ist zu erkennen, dass auch noch mehrere andere Bahren belegt sind. Erstaunlich, denke ich, wie schnell und präzise das Auge sein Blickfeld abtasten und im Gehirn zu einem „Befund“ werden lassen kann. „Diese sind noch nicht geöffnet, wir haben ja diese Woche Ärztestreik“, sagt Frau Widulin und schiebt den Toten zurück. Ich frage, weshalb die Toten Windeln tragen. „Windeln tragen sie, weil sie inkontinent waren“, sagt Navena Widulin erklärend. Ich frage deutlicher. Weshalb sie die Windeln noch tragen, ob die Toten denn nicht mehr, wie es einmal auch in Krankenhäusern üblich war, gewaschen und in einem Leichentuch bedeckt werden, bevor man sie in die Leichenhalle bringt? „Nein, das ist vorbei, das ist auch ein Opfer der Sparmaßnahmen. Wenn man Glück hat, wird der Kiefer hoch gebunden. Die Augen werden natürlich geschlossen bei den Toten, die Urinbeutel usw. werden abgestöpselt. Aber die Zugänge bleiben drin. Wir haben es auch schon gehabt, dass Leichen teilweise hier mit allerhand Infusionsfläschchen ankamen, dann hat man hier natürlich eine halbe Intensivstation zu entsorgen. Aber es ist einfach so, dass die Schwestern so schon alle Hände voll zu tun haben, sie können nicht auch noch Leichen waschen. Der größte Teil der Bestatter sargt die Leichen hier gleich ein, so wie sie sind. Die waschen auch nicht mehr. Also wenn’s nicht grade Teil von einem Ritual ist, muss eine Leiche ja nicht gewaschen werden, das ist eher was für den Hausgebrauch, wenn ein vertrauliches Verhältnis mit dem Toten da war. Wer allerdings das Geld hat … Ich habe einen Kollegen in München, der Leichen wiederherstellt nach Unfällen, der hat auch für Königshäuser schon einbalsamiert, auch Franz Josef Strauß und Moshammer. Wir verlassen den Leichenkeller und gehen zur nahe liegenden Kapelle.
„Das ist der ehemalige Abschiednahmeraum sozusagen, aber nach dem Krieg wurde er Lagerraum für die Präparatesammlung. Mildes Licht erfüllt den schmucklosen Raum, in dem sich auf den robusten Metallregalen Glasgefäß an Glasgefäß reiht. „Also hier stehen etwa drei bis 4.000. Sie sind nach Organen sortiert, wie Sie sehen. Da hinten sind Nieren, Hirne und Lungen. Vorne steht alles noch ein bisschen durcheinander. Das ist natürlich für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Wir führen aber z. B. Wissenschaftler in die Depots.“ Frau Widulin zeigt Elisabeth im hinteren Teil die schönen, eisernen Virchow-Vitrinenschränke, während ich mich in den Anblick der früher als Monstrositäten bezeichneten fehlgebildeten Kinder vertiefe. Sie schweben mit säuglingshaft geballten Fäusten in ihren Gläsern, einem Krankheitsbild zugeordnet. Trotz ihres Zustands strahlen sie etwas Souveränes, Würdevolles aus, weil sie in sich stimmen und intakt sind. Das trifft für die Kinderköpfe ganz oben im Regal nicht mehr zu. „Hier sind noch ein paar sehr alte Präparate“, höre ich Frau Widulin sagen, „1883, der Kiefer eines Mannes mit Knochenerweichung. Und hier sind welche von 1852, und das ist ein Originalpräparat, von Virchow selbst beschriftet, ein Uterus mit Scheide, unten sieht man noch die Haare der äußeren Geschlechtsteile. Und was natürlich immer einen hohen Wiedererkennungswert hat, ist ein Gehirn.“ Sie zeigt uns ein Glas mit zwei übereinander liegenden Gehirnschnitten.
Zum Abschluss gehen wir nun in den Präparatekeller. Er ist nur von außen zu erreichen, über eine von altem Laub bedeckte und vereiste Kellertreppe. Navena Widulin schließt ihn auf. Innen ist es überraschend warm. Der weiß gekalkte Gewölbekeller liegt zwei Meter unter Erdniveau und ist gefüllt mit eng stehenden Regalen, zwischen denen sich nur schmale Durchgänge befinden. Ab und zu spendet eine Kugellampe aus Milchglas von oben her etwas Licht, grade genug, um die Aufschriften der Gläser in den oberen Regalen lesen zu können. Hier lagern mehr als 5.000 Präparate. Allein 1.000 Herzpräparate, 140 davon mit Herzfehlbildungen, Herzinfarkte, es gibt zahllose Tumore aller Art, Darmerkrankungen, Gebärmuttern, Hoden und die bereits erwähnten Leberzirrhosen und Fettlebern.
Alles, was Organe, Haut und Knochen befallen hat in den vergangenen 150 Jahren und das Leben der ehemals Kranken vorzeitig beendete, ist hier versammelt. Über lange Zeit hinweg kamen für die Gewinnung von Präparaten ja nur die Verstorbenen aus der Unterschicht in Frage mit ihren spezifischen Krankheiten. Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich hier nicht nur um medizinhistorisch interessante Präparate handelt, sondern auch um Zeugen der Sozialgeschichte. Das schwarze Klebeband mit dem bei allen Gläsern der Glasdeckel befestigt ist, erinnert, wahrscheinlich unabsichtlich, an einen Trauerflor und daran, dass jedes Präparat ein Memento mori ist. „Wir gehen jetzt hier ins Glaslager“, ruft Frau Widulin, „und passen Sie bitte auf, dass Sie sich nicht den Kopf stoßen, wie es der Gesundheitsministerin passiert ist, als sie hier durchmarschierte.“ Das Glaslager ist ein kleinerer Gewölbekeller mit aufgewühltem Fußboden. Schöne alte Gläser aller Größen stehen in einem ziemlichen Durcheinander herum. Bauarbeiter waren hier am Werk und haben einiges zerbrochen. Auf dem Rückweg bleibt Frau Widulin noch mal stehen und hebt ein kleines Glas mit dunklem Inhalt aus dem Regal. „Das ist von 1895: ‚Penis eines Negers‘ ist es beschriftet. Einfach abgeschnitten und ins Glas gestopft. Hier geht es wirklich nicht mehr nur ums Präparat! Das wäre heute überhaupt nicht mehr tragbar. Das ist auch nicht mit dem Sinn einer pathologischen Sammlung vereinbar, der besteht ja in der Darstellung von Krankheiten und ihren Verlaufsformen.“
Wieder zurück in den Arbeitsraum, nehmen wir am Seziertisch Platz und bitten, uns noch etwas von ihrem Werdegang zu erzählen. „Es war so: Meine erste Ausbildung als Arbeitshygiene-Inspektorin war mir viel zu staubig, zu trocken. Zufällig fand ich beim Arbeitsamt ein Ausbildungsangebot: ‚Assistent bei der Durchführung klinischer Sektionen‘. Das war wie die Berührung mit einem Zauberstab. Ich wusste, das will ich machen. Dann habe ich mit der Ausbildung angefangen und gleich am zweiten Tag durften wir eine Lehrsektion anschauen. Also 90 Prozent von uns hatten noch nie eine Leiche gesehen, geschweige denn eine Sektion. Der Oberpräparator hat die Leiche seziert, ich hab durch die Finger hingeschaut und war superaufgeregt. Es hing ja alles davon ab. Und es ging gut. Ich war wie erlöst danach. Und dann ging’s gleich am nächsten Tag los. Also, zusehen ist ja was ganz anderes. Nun sollten wir selbst Hand anlegen. Das war völlig aufregend. Unsere Ausbilder standen hinter uns, der eine war ein bisschen forsch, weil ich zögerlich war. Man tastet sich ja ran, befürchtet, irgendwas zu zerstören. Der packte dann immer meine Hand und sagte“, sie spricht mit tiefer Stimme: „So musst du es machen, mit Druck! – Also Haut ist schon ganz schön widerstandsfähig. Man muss ganz schön kräftig einschneiden. Es gibt natürlich verschiedene Hauttypen. Dünne Haut, alte Haut. Na ja, ich habe alles gut gemeistert. Aber eigentlich wollten sie mich nicht nehmen, weil ich eine Frau bin. Das war damals nur ein wilder Männerhaufen. Man hatte Sorge, weil es natürlich auch eine körperlich schwere Arbeit ist. Man muss die Leichen hin- und herbewegen auf dem Tisch, vielleicht auch Treppen rauf- und runtertragen. Dann hat sich der Oberarzt für mich stark gemacht, und das war mein Glück. Ich konnte arbeiten als Präparatorin.
Also es ist immer üblich, dass ein Pathologe und ein Präparator zusammenarbeiten, Hand in Hand. Und glücklicherweise ist es so, dass man uns dann doch ein bisschen mehr Arbeit überlässt, als nur den Kopf aufzusägen und den Leichnam zu schließen. Das heißt, wir entnehmen Organe und der Pathologe eröffnet und diagnostiziert sie. Heute arbeite ich nur noch als Museumskonservatorin und Präparatorin, also ich fertige Präparate schon auch noch an, neben dem Restaurieren. Ab und zu seziere ich auch noch, sozusagen als Nebenjob auf zweiter Steuerkarte. Ich fahre mit meinem ehemaligen Chef zusammen in irgendein Krankenhaus, wenn die niemanden zum Sezieren haben. So bleibe ich handwerklich in Schuss.“ Wir fragen, wie es wäre, wenn sie jemanden sezieren müsste, den sie gut kennt. „Das würde ich, glaube ich, nicht machen. Weil, man muss ja auch mal ehrlich sein, das sicherlich kein Anblick ist, den man von seinen Liebsten als letzten Anblick haben möchte. Da ist die Hemmschwelle für mich zu groß. Ich habe natürlich schon Leute aus dem öffentlichen Leben, die man kennt, seziert, aber das ist ja was anderes.“ Wir fragen nach ihrem Verhältnis zum Tod. „Ja … das ist schwierig zu sagen. Weil der ja in meinem Beruf allgegenwärtig ist, da geht der Gedanke daran oft völlig verloren. Man bekommt andererseits im Lauf der Jahre viel mit, wie Leute zu Tode kommen, wie sie leiden, was für Schmerzen sie ertragen mussten. Das alles will man selbst ja nicht haben. Jeder wünscht sich einen friedvollen Tod. Ich weiß, der wird den wenigsten gegeben. Das andere, was oft problematisch ist, ist das Abschiednehmen der Angehörigen, was, wenn man das sieht, doch sehr an die Gefühle geht. Und es zeigt, wie verletzlich man ist. Wir haben einen Besichtigungsraum. Manche haben den Wunsch, ihre Verstorbenen noch mal zu sehen. Und da gibt es dann die unterschiedlichen Arten zu trauern, also die Türken, Italiener usw., die sind sehr massiv, die weinen laut, die schütteln die Leichen, sie küssen die Leichen. Bei den normalen Deutschen sind die meisten ‚stille Weiner‘, fassen die Toten kaum an. Ich erinnere mich an eine Italienerin, sie wollte ihren jungen Mann noch mal sehen. Sie hat drei Tage gebraucht, um Abschied zu nehmen. Erst am dritten Tag war sie so weit. Ich bin immer hingefahren, ich war schwanger, sie war schwanger. Ich hatte noch Dienst, habe aber nicht mehr seziert in der Zeit, wo ich schwanger war … Also da habe ich dann draußen gesessen und hörte sie klagen, und ich dachte: o Gott!
Und wieder eine ganz andere Erfahrung mit dem Tod habe ich damals in Bosnien gemacht, da kam diese unheimliche Gewalt dazu. 2000 und 2001 bin ich über die UNO hingefahren, in die Nähe von Sarajevo. Dort wurden Massengräber ausgehoben. Man hatte plötzlich mit 200 Leichen zu tun, die alle erschossen oder durch Handgranaten hingerichtet worden waren. Fast nur Männer, Zivilisten. Kaum Frauen und Kinder. Ein Rechtsmediziner und einer von uns, haben die Leichen auseinander genommen, soweit das möglich war. Die waren oft schon sehr skelettiert. Wir haben sie entkleidet, und da wurden übrigens plötzlich Gallensteine gefunden bei einigen. Die waren schon so zersetzt, dass die Gallensteine quasi aus der Galle rausgefallen sind in die Kleidung. Die Anthropologen und sogar die Rechtsmediziner haben mir erst nicht geglaubt, die dachten, es ist Schmuck. Dann haben sie sich aber überzeugt und gesehen, es sind Gallensteine. Ich war ganz stolz, dass ich es gleich erkannt habe. Ja, und die Kleidung wurde dann gewaschen und getrocknet zum Zweck der Identifikation, es wurden Proben entnommen von Knochen, es wurde alles nach Den Haag geschickt zur DNA-Untersuchung. Also, das war eine Erfahrung, die sich schon sehr unterschieden hat vom normalen pathologischen Arbeitsalltag.
Ich weiß auch nicht, was das ist, schon als Kind habe ich das gespürt, diese Faszination. Ich interessiere mich plötzlich nicht nur für lebendige Tiere, sondern auch sehr für tote. Das sind die Gene, also mein Vater hat mich sehr geprägt. Der ist in Sibirien geboren und aufgewachsen, sehr ärmlich, sehr naturverbunden. Da musste man natürlich auch jagen und schlachten. Das hat er an mich weitergegeben, dieses Verhältnis zur Natur. Meine Eltern waren geschieden. Ich bin bei meiner Mutter in Potsdam groß geworden. Mein Vater war in Berlin, und in den Ferien war ich bei ihm. Wir sind viel mit dem Schlauchboot unterwegs gewesen und haben uns ausschließlich von dem ernährt, was die Natur hergab, Beeren, Früchte, Fische, Krebse, Frösche. Mein Vater hat mir alles gezeigt, ich hatte aber eine Scheu davor, ein Tier zu töten. Fand es aber wahnsinnig spannend alles. Und dieses brennende Interesse hat mich eigentlich nie verlassen später. Das ging richtig tief. Bei meiner ersten Ausbildung, da sollte es einen Besuch geben in der Anatomie. Ich war Feuer und Flamme! Wir waren vierzig Leute, aber es gab nur zwanzig weiße Kittel, und nur wer einen Kittel hatte, durfte hinein. Ich hatte keinen abbekommen und habe furchtbar geweint. So sehr, dass welche ankamen und sagten, willst du meinen? Hier nimm. In der Anatomie dann sahen wir eine fixierte Leiche, formalinfixiert, grau, wie aus Plaste, gummiartig. Die hatte für mich überhaupt keine menschlichen Züge mehr. Ich war eigentlich fast enttäuscht. Da hat der Anatom gefragt, ob denn jemand mal das Herz halten möchte. Alle drehten sich weg und riefen ‚uargg‘ und ‚ihhh‘. Ich rief ‚jaaaa‘! Und dann bin ich vorgetreten, ich musste Handschuhe anziehen, dann habe ich das Herz gehalten, ganz vorsichtig … ganz andächtig, ich weiß nicht, was ich alles fühlte. Solche Momente hat man nur zum Anfang, in dieser Intensität. Ganz selten später. Es wird dann alles so normal irgendwie, man fühlt nichts mehr, fast schade eigentlich. Aber ich erinnere mich ganz genau, wie es war. So ein Herz, das wiegt etwa 300 Gramm, ja. Das war der Kurs in meiner ersten Ausbildung, sozusagen ein Besuch dieser berühmten Meckel-Sammlung in Halle.“
Einige Tage später stieß ich beim Recherchieren zufällig auf folgende kleine Geschichte, die nicht unterschlagen werden soll: Philipp Friedrich Theodor Meckel (1755–1803) war einer der ganz wenigen Anatomen, die vor dem eigenen Körper nicht Halt machten und auch sich selbst der Anatomie zur Verfügung gestellt haben. Er sezierte und skelettierte seine eigenen drei früh verstorbenen Kinder. Ein überlebender Sohn wurde ebenfalls Anatom und der sezierte und skelettierte die väterliche Leiche und stellte sie, wie testamentarisch verfügt, in die Meckel’sche Sammlung, die bereits der Großvater, Friedrich Meckel d. Ä. angelegt hatte. 1836 verkaufte die Witwe diese Privatsammlung dreier Anatomen an die Universität Halle. Die erwarb damit die größte Privatsammlung Europas. Und noch heute steht das Skelett Meckels in der Sammlung des anatomischen Instituts der Medizinischen Fakultät Halle, nebst den Schädeln seines Sohns und zweier Enkel. Im November 2002 initiierte das Institut ein absonderliches Familientreffen, es lud die Nachfahren Meckels ein. Vor dem berühmten Schrank mit seinem Skelett gruppierten sich die Nachfahren, Männer, Frauen und Kinder, zu einem abschließenden Familienfoto.