ACHTER TAG : Ausdruckstänze
Doch, man hat Mitleid mit uns. Es ist davon auszugehen, dass sich mittlerweile jeder Berlinale-Besucher an dem offiziellen Trailer des Festivals übelgesehen hat: eine Computeranimation, die mit drögem State-of-the-Art-Production-Finish protzt und aus goldenem Funkenregen vor luxusrotem Hintergrund den Bär zusammensetzt und wieder zerstäubt. Wow!
In den Vorführräumen hat man endlich ein Einsehen: Seit der gefühlten Halbzeit der Festspiele wird nun verstärkt ein alternativer Mash-up-Trailer eingesetzt, der als ironischer Kommentar zu verstehen ist. Wir sehen einen betont unattraktiven Mann Ende 30 in dunkelblauer langer Unterhose dabei, wie er – zu der aus dem Originaltrailer zu Genüge bekannten TripHop-Werbekuschelmusik – einen hochnotpeinlichen Ausdruckstanz aufs Parkett seines Wohnzimmers legt. Er rutscht beinahe auf einer Zeitung aus, seiner Begeisterung und seinem ungelenken Schütteln tut das keinen Abbruch. Was sehen wir hier? Den personifizierten Cineasten natürlich. Genauer: den männlichen Berliner Cineasten, jenen halbintellektuellen, verstockten Kinonerd, der sich, prekär beschäftigt und sich durch diverse Projekte hangelnd, eine komfortabel geschnittene Altbauwohnung mit Fischgrätparkett und riesiger Bücherwand leisten kann. Das ist natürlich auch ein böses Klischee, aber vorerst ist uns das lieber als das pseudoglamouröse Feuerwerk von vorher.
Und was macht derweil der Wettbewerb? Auch er übt sich in Selbstironie – oder wie sonst soll man es verstehen, wenn in Lisa Cholodenkos „The Kids Are All Right“ ausgerechnet ein im Abfluss stecken gebliebenes Büschel der wunderbar langen, wunderbar roten und schon so viele wunderbare Filme mit Sex, Glamour und Geheimnis belebt habenden Haare Julianne Moores dafür verantwortlich sind, dass das queere Familienidyll, das der Film zeichnet, zusammenzubrechen droht?
Der Abfluss befindet sich im Haus von Paul (Mark Ruffalo), der vor 18 Jahren anonym den Samen spendete, mit dem Nic (Annette Bening) und Jules (Moore) ihre Kinder bekamen. Wann hat man schon mal eine Komödie gesehen, in der zwei Teenager Angst haben, ihre Mamas könnten sich trennen, nur weil die eine zwischendurch mal mit einem Mann im Bett war? Oder einen Film, in dem zwei Lesben ihren Kindern beim Abendessen erklären, warum sie sich im Schlafzimmer manchmal schwule Cowboypornos anschauen?
„The Kids Are All Right“ ist der erste Film der Berlinale, der es geschafft hat, dass man aus dem Kino kommt und spontan wildfremde Menschen umarmen möchte. Leider läuft er außer Konkurrenz. Dafür scheint draußen zum ersten Mal die Sonne. Doch, man hat Mitleid mit uns. Bis morgen! JAN KEDVES