INTENDANT DER WOCHE : Sehnsuchts-Maschinist
JOHN NEUMEIER leitet seit 40 Jahren das Hamburg Ballett. Das wird ab Sonntag gefeiert
Seine Kunst ist die Leichtigkeit, aber ihr Fundament wiegt locker ein paar Tonnen: Bevor auch nur ein Tänzer einen Fuß auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper setzt, muss dort ein Tanzboden verlegt werden, vor jeder Vorstellung, jeder Probe. 340 Quadratmeter Holzschwingplatten, darauf liegt ein Teppich, PVC, tonnenschwer, fixiert mit mit Massen an Klebeband – sechzigtausend Meter pro Saison.
In dieser Arena lässt John Neumeier dann den Menschen gegen die Götter antreten, er lässt begehren und schweben, sterben und gewinnen. Dass der Aufbau zwei Stunden dauert, erscheint da als eher geringer Aufwand.
Ach, John Neumeier. Einmal hat ihn jemand als Hamburgs Ballettmaskottchen bezeichnet, seine Reaktion ist nicht überliefert, wahrscheinlich gab es keine. Blödsinn interessiert ihn nicht. Neumeier, der jetzt seit 40 Jahren das Hamburg Ballett leitet, geht es um Wahrhaftigkeit.
Seine Geschichte beginnt damit, dass er mit 11 Jahren zu Hause in Milwaukee ein Buch las, für das er noch zu jung war: „The tragedy of Nijinsky“, die Geschichte des russischen Ballettgenies. Es ist nicht ganz klar, ob Neumeier nicht begriff, dass er zu jung ist, oder ob er begriff, dass es Blödsinn wäre, das zu glauben.
Neumeier lebt dafür, immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen – eine große Geschichte, von Hass und Misstrauen, von Liebe und Kraft, von Scheitern, Tod und Triumph. Neumeier probiert verschiedene Einstiege aus, experimentiert mit Figuren, testet Spannungsbögen, Titel und Bilder – wie das eben so ist, wenn man etwas zu erzählen hat, das größer ist als man selbst. Neumeier wird nicht aufhören mit seiner Geschichte, bis sie zu Ende erzählt ist. Immer wieder, und immer wieder von vorn.
Dass es so aussieht, als mache er einfach immer das Gleiche, als wolle er sich selbst ins Museum stellen – das nimmt er hin. Wahrhaftigkeit, wie gesagt. Die beginnt für ihn schon mit der Frage, warum das Opernhaus Opernhaus heißt. Musiktheater müsste es heißen, maulte Neumeier einmal. Aber es heißt weiter Opernhaus, und „das Ballett ist eine heimatlose Kunst“, sagt Neumeier. „Wäre heute noch alles so wie damals, als ich nach Hamburg kam, dann wäre ich nicht geblieben“, sagte Neumeier. Seit damals, 1973 war das, hat er mit seiner Kompagnie rund 50.000 Spitzenschuhe verschlissen. Gegangen ist er nicht.
Mit ein bisschen Mut zur Interpretation lässt sich an Neumeier der Zustand der Gegenwart ablesen. Seine Sehnsuchtsmaschine funktioniert ja nur, wenn jemand den Treibstoff bezahlt: wenn die Leute zusehen wollen. Könnte sein, dass es der Gegenwart also ein bisschen an Körperlichkeit, Kraft und Sex fehlt, an Triumphen und Magie. Vielleicht sehen die Leute aber auch nur gern anderen beim Tanzen zu. FLORIAN ZINNECKER